[1] 45/1.

An Carl Friedrich Zelter

Du hast, mein Theuerster, gar oft mir zu Liebe die Feder angesetzt, und ich will auf dein Verlangen wohl einen Versuch wagen, den du wünschest.

Um die äußerst mannichfaltigen und folgelosen Witterungs-Erscheinungen mir einigermaßen zu deuten, verfahr ich folgenderweise: ich nehme zwey Atmosphären an, eine untere und eine obere; die untere erstreckt sich nicht sonderlich hoch, gehört eigentlich der Erde zu und hat eine heftige Tendenz sich und was sie enthält von Westen nach Osten zu tragen; mag sie vielleicht selbst der täglichen Bewegung der Erde gehorchen. Die Eigenschaft dieser Atmosphäre ist Wasser zu erzeugen, und zwar vorzüglich bey niederem Barometerstand; die Nebel, die sich aus Teichen, Bächen, Flüssen und Seen erheben, steigen alsdann in die Höhe, versammeln sich zu Wolken, gehen bey noch mehr fallendem Barometer als Regen nieder, und auf dem tiefsten Puncte desselben erzeugen sich wüthende Stürme.

[1] Das Steigen des Barometers jedoch bewirkt sogleich ein Gegengewicht; der Wind bläst von Osten, die Wolkenfangen an sich zu theilen, sich zu ballen, an ihren oberen Enden aufgezupft zu werden, nach und nach, als Schäfchen, leichte Streifen und Striche mancher Art, in die höheren Regionen aufzusteigen, um sich dort allmählig zu verlieren; dergestalt daß, wenn bey uns der Barometer auf 28'' steht, kein Wölkchen mehr am Himmel seyn darf, der Ostwind frisch und lebhaft bläst, und uns nur die hellere Bläue des Himmels noch andeutet, daß etwas Trübendes in der Atmosphäre vorhanden und zwischen uns und dem Unendlichen, Finstern ausgedehnt sey.

Dieses hier Gesagte ist das reine, bey einem nicht bestimmbaren Wechsel ewig gleiche Gesetz. Läßt man sich nicht irre machen, so kann man durch dieses Wenige alle übrigen Abweichungen und Zufälligkeiten beurtheilen. Folgendes aber ist nöthig beachtet zu werden.

Ich habe nur zwey Winde, den Ostwind und den Westwind genannt, der Nord schließt sich mit seinen Wirkungen an den Osten an, der Süd an den Westwind, und so haben wir zwey Himmelsgegenden, die so wie in ihrer Lage als in ihren Erscheinungen einander entgegen stehen.

Man halte das Obige fest und nehme es einsweilen als Regel, so wird man sich von Nachstehendem eher einige Rechenschaft geben können.

[2] Seit drey bis vier Jahren läßt die untere Atmosphäre eine übermäßige Wasserbildung zu, gegen welche die obere sich nicht genugsam in's Gleichgewicht stellen kann. Bey niederem Barometerstande häufen sich Wolken auf Wolken, der Westwind treibt sie von dem Meere in das Continent hinein, wo zugleich auf der bewässerten Erdfläche Nebel genug aufsteigen und Wolken sich bilden und nach Osten immer vorwärts getrieben werden. Steigt auch das Barometer, wird der Zug nach Osten gehemmt, so ist doch die erzeugte Wasser- und Wolkenmasse so groß, daß die obere Luft sie nicht aufzehren und vertheilen kann; wie wir denn seit einigen Tagen bey erhöhtem Barometerstande Nordwind haben und doch der Himmel, besonders nach Süden zu, schwer bedeckt und mit Wolkenmassen angefüllt ist. In Nordosten sieht man, hinter geballten Wolken, den blauen Himmel durchscheinen und an ihm Versuche, Schäfchen und leichte Streifen zu erzeugen; man kann versichert seyn, daß kein Regen niedergehen wird; aber der Himmel wird nicht klar, und wie das Barometer unter das Mittel sinkt, so ist der Regen in Güssen und Strömen vorhanden. So war den ganzen August über der Himmel bedeckt, wenn es auch nicht regnete, und dadurch unsere so schön sich anlassende Weinernte vereitelt. Die unter, über und neben mir an Stäben und Geländern befestigten Reben tragen reichlich geschwollene Trauben, die aber nicht durchgekocht, nicht reif werden. Was[3] hilft uns also der gute Sinn und Rath eures Weinver ständigen Kecht; wäre nach seiner Angabe der Traubenreichthum der doppelte, so würde auch bey dem Mißlingen die Verzweiflung doppelt seyn.

Da ich bey allem Obgesagten das Barometer mit allen Erscheinungen durchaus in Bezug setze, so spreche zuletzt den Hauptpunct aus: daß ich jene Elasticität, Schwere, Druck, wie man es nennen will, wodurch sich eine sonst unmerkliche Eigenschaft der Atmosphäre merklich macht, der vermehrten oder verminderten Anziehungskraft der Erde zuschreibe. Vermehrt sie sich, so wird sie Herr über das Feuchte; vermindert sie sich, so nimmt die Masse des Feuchten überhand, und wir sehen jene Wirkungen erfolgen. Da aber seit einigen Jahren die Wasserbildung in der untern Atmosphäre überhand nimmt, so vermag auch sogar ein hoher Barometerstand sie kaum zu gewältigen; denn selbst mit 28'' wird der Himmel nicht vollkommen rein.

Mehr wüßt ich dießmal nicht zu sagen; denn alle Erfahrungen dieser drey Jahre lösen sich mir in diesen einfachen Vorstellungen auf. Die gräßlichen Wasserniedergänge auf Bergeshöhen im vorigen Jahre, wie der an den Quellen der Neiße war, so wie dießmal die Erscheinung in flachen Gegenden, der Hagelschlag in Hannover, die gewaltsamen Wetter in Niederdeutschland, der furchtbare Wassersturz, der am 20. Juli Abends von Havre de Grace und Nancy über [4] Lyon u.s.f., über Thüringen weg bis nach Wien ging, und von welchem das euch am 21. betroffene Wetter ein Theil davon mag gewesen seyn, das alles glaub ich mir durch obige Vorstellungsart auszusprechen.

Denken wir nun, wie bey dem schnellen Umschwung des Erdballs diese stürmisch-feuchte Tendenz, von dem großen Westmeere her, über England hereinstürmt, wo denn doch auch dieß Jahr der Feldbau durch Nässe beeinträchtigt worden, so blicken wir denn freylich in ein Unendliches hin, welches zu durchschauen unsere Geistesorgane vielleicht unfähig sind.

Schaffe dir ein gutes Barometer an, häng es neben dich, vergleiche sein Steigen und Fallen mit der Physiognomie der Atmosphäre, mit der Bewegung der Wolken und was dir sonst noch auffallen möchte; gedenke mein dabey, wie ich dein in einem Augenblick gedenke, wo, gegen Mittag, endlich der Sonnenschein durchbringt. Die mächtigsten wunderbarsten Wolken bilden sich an einem theilweis tiefblauen Himmel und lagern sich umher; noch werden sie von der elastischen Luft getragen und emporgehalten, sänke das Barometer, so stürzten sie nieder. Prächtig fürwahr und furchtbar sind diese Massen, von der Sonne beschienen.

Nimm aus diesem Allgemeinen und Besondern, was dich anmuthen und dir brauchbar seyn mag; ich hege diese Vorstellungsart nunmehr seit vierzig Jahren und weiß mich auf diese Art mit der Natur [5] in gutes Verhältnis zu setzen; jeder muß freylich am besten wissen, wie er sich das Schwere bequem macht.

Indessen ist es Abend geworden und ich schließe noch mit wenigem den Witterungstag. Das Barometer war stehen geblieben, der Himmel hellte sich nach und nach ziemlich aus; vor Sonnenuntergang schwebten nur noch wenige Streifwolken tief am Horizonte; aber prächtig hatten sich über den östlichen Bergreihen ein paar Gebirgszüge glänzender Ballwolken gelagert, deren Licht- und Schattenseiten, ja die Schlagschatten vorstehender Massen eine vollkommene Körperlichkeit andeuteten. Das Erleuchtete erschien gelbroth, das Beschattete blau. Und so lagen sie auf desto mehr täuschende Weise wie Schneealpen, da sie nicht allzu hoch reichten und sich stundenlang ruhig verhielten. Der höchste Gipfel möchte allenfalls mit dem Mont Rosa gewetteifert haben.


Dornburg den 7. ejd.

Montag früh halb sechs Uhr vollkommen gleicher undurchdringlicher Nebel, das Barometer war gestiegen, Nord-Ostwind, die Fenster angelaufen. Dieß wäre nun in der Regel und verspräche eine schöne glückliche Vertheilung des Nebels, zu welchem Schauspiele ich dich wohl herwünschte, so wie zu dem heiteren Tage, der darauf folgen wird; wie solches zunächst gemeldet werden soll.


[6] Abends.

Und so war es denn auch, ein schöner klarer, bey Sonnenuntergang völlig wolkenreiner Tag; ich fuhr mit einem Freunde in's Thal hinab und, über die dir bekannte Brücke, auf das rechte Ufer. Wir erstiegen, zwischen Wiesen, Feldern und Weinbergen, eine Höhe, wo wir die Saale unter uns, sodann auch Thalauf, Thalabwärts durch eine fruchtbare Gegend sich krümmend überschauen konnten. In Süden war Jena deutlich zu sehen.

Das Ganze in anmuthiger Beleuchtung. Die Dornburger Schloßreihe, mit ihren Hintergebäuden und der aufsteigenden Stadt, auf den schroffen Felsenmassen, alles im Schatten sah wirklich ganz ernsthaft und anständig aus; indessen wir hüben im Sonnenscheine unsere Seite rechts und links beschauen konnten.


Montag den 8. September 1828.

Das Barometer ist auf 27'' 8''' gestiegen, der Nebel früh 6 Uhr so stark wie gestern, doch sind wir eines schönen Tages gewiß, wovon das Weitere späterhin.

Und so hat denn dießmal das Barometer sein quos ego entschieden ausgesprochen. Es schlug eben Neun und die Atmosphäre war vollkommen gereinigt, die Gegenstände des Thales blickten aus dem leichten Duft hervor. Es ist doch, wie überall, auch in der Weltgeschichte: sobald Carl Martell auftritt, so klärt[7] sich der Wust auf, der Gallien und die übrige Welt bedeckt. Glücklicherweise folgt Pipin und Carl der Große; nachher ist es aber auch wieder für eine geraume Zeit völlig aus.


Dienstag den 9. September.

In der Morgendämmerung war Venus der Sonne weit vorausgegangen und stand hoch am Himmel; die ganze Luft war rein und klar, das Barometer abermals gesunken, aber immer noch im leiblichen Stand. Gegen 6 Uhr früh füllte ein dichter Nebel das ganze Thal, stieg aber nicht so hoch, daß er die gegenüberstehenden Berge verdeckt hätte. Er fiel und zertheilte sich, so daß Himmel und Erde bald klar dalagen; am südwestlichen wie am nordöstlichen Horizont leichte Wolkenstreifen.

Bis gegen Mittag klarster Himmel, dann sich bewölkend; Abends ganz über und über, aber leicht bewölkt. Fragt man, woher denn auf einmal ein so weiter und breiter Wolkenumfang und -Umhang herkomme? ich antworte, nirgends her! denn überall rechts und links, um und um, wie im Zenith kann das Wolkenwesen entstehen, da das Barometer auf dem zweydeutigen Puncte steht, da wo ungefähr die alten Wettergläser unbeständig hinsetzten. Nachts war der Himmel wieder rein und sternhell; der Wind war südlich geblieben.


[8] Den 10. September.

Früh halb 6 Uhr kein Nebel. Wolken, theilweise ballenartig, doch nicht recht gepackt. Das Barometer war auf 6''' stehen geblieben. Den ganzen Tag zogen Wolkenballen über den Himmel weg, die zwar an den Enden aufgezupft wurden, aber doch einen regenartigen Habitus zeigten. Gegen Abend war das Barometer auf 5 1/4''' gefallen. Zweydeutige Wolkengestalten, zwischen aller Howardischen Terminologie schwebend.


Den 11. September.

Fuhr ich nach Weimar zurück und somit war die freye Aussicht zugleich mit meiner Himmelsbetrachtung geschlossen; die Geschäfte mußten abgethan werden, das Wetter sey von welcher Art es wolle; das Barometer bewegte sich auf und ab und eben so die Witterung, ohne daß etwas weiter zu sagen wäre:

Denn mit dem himmlischen Küchenzettel
Ist's immer wieder der alte Bettel.

Vorstehendes liegt schon eine Weile für dich bereitet; ich wollte es aber nicht eher absenden, bis die Fluth der Wissenschaften, die über deinem Haupte zusammenschwoll, sich wieder verlaufen hätte.

Mehrere einzelne Glieder jener stattlichen Gesellschaft sind schon bey mir vorübergegangen, und es [9] ist nur eine und allgemeine Stimme vollkommenster Zufriedenheit. Die Einleitungen und Einrichtungen, sieht man wohl, waren der Persönlichkeit, der Menge, den Umständen und Zuständen, hauptsächlich auch den Localitäten angemessen, und da konnte denn nicht fehlen, daß alles gut ablaufen mußte. Die sämmtlichen so wohl Aufgenommenen zweifeln, ob ihnen dieß zum zweytenmale widerfahren möchte. So haben denn die Herren Badenser Ursache sich zusammenzunehmen, und ich hoffe, daß auch in der Folge, verhältnißmäßig, alles nach so einem guten Beyspiele sich ausbilden wird.

Du wirst mir von deiner Seite über deine Theilnahme nun auch ein Wörtchen sagen, und dann wollen wir unsere Geschäfte jeder von seiner Seite weiter betreiben.

(Da ich diese Blätter gerne heut fortschicken will und verhindert bin solches zu füllen, auch solchen nicht leer lassen möchte, so theile dir abschriftlich den Inhalt einiger Blättchen mit, die unzählig vor mir liegen und die ich gerne sondern möchte. Nimm sie noch ungesondert, wie sie dem Schreibenden in die Hände fallen.)

In der Geschichte der Naturforschung bemerkt man durchaus, daß die Beobachter von der Erscheinung zu schnell zur Theorie hineilen und dadurch unzulänglich, hypothetisch werden.

[10] Es gibt eine zarte Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird. Diese Steigerung des geistigen Vermögens aber gehört einer hochgebildeten Zeit an.

Am widerwärtigsten sind die kricklichen Beobachter und grilligen Theoristen, ihre Versuche sind kleinlich und complicirt, ihre Hypothesen abstrus und wunderlich. Ein solcher war der gute Wünsch. Dergleichen Geister finden sich leicht mit Worten ab und hindern die Fortschritte der Wissenschaft: denn man muß ihnen doch nachexperimentiren und aufklären, was sie verdüstert haben. Da nun aber nicht viele hiezu berufen sind, so läßt man's auf sich bewenden und schreibt ihren Bemühungen einigen Werth zu, welches niemandem zu verdenken ist.

Ganze, Halb- und Viertels-Irrthümer sind gar schwer und mühsam zurecht zu legen, zu sichten und das Wahre daran dahin zu stellen, wohin es gehört.

Es ist nicht immer nöthig, daß das Wahre sich verkörpere, schon genug wenn es geistig umherschwebt und Übereinstimmung bewirkt; wenn es wie Glockenton ernst-freundlich durch die Lüfte wogt.

[11] Wenn man die Probleme des Aristoteles ansieht, so erstaunt man über die Gabe des Bemerkens und für was alles die Griechen Augen gehabt haben; nur begehen sie den Fehler der Übereilung, da sie von dem Phänomen unmittelbar zur Erklärung schreiten, wodurch denn ganz unzulängliche theoretische Aussprüche zum Vorschein kommen. Dieses ist jedoch der allgemeine Fehler, der noch heut zu Tage begangen wird.

Man weiß eigentlich nur, wenn man wenig weiß; wie man mehr erfährt, stellt sich nach und nach der Zweifel ein.

Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; nur viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte.

Und doch bedarf es in der Naturforschung eines kategorischen Imperativs so gut als im Sittlichen, nur bedenke man, daß man dadurch nicht am Ende sondern erst am Anfang ist.


Und so fortan!

Weimar den 5. October 1828.

G.


(Verzeihung dieser mehr als zufälligen Mittheilung.)
[12]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7C96-5