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An Joseph Sebastian Grüner

Euer Wohlgeboren

Schreiben und Sendungen sind mir immer höchst angenehm, denn sie bringen mir die schönen Tage wieder lebhaft vor die Seele, wo wir heiterm Himmel in vertraulich-belehrender Unterhaltung so manche gute Stunde behaglich verlebten, auch davon immer die entschiedensten Vortheile zu gewinnen wußten mußten.

Lassen Sie mich also jetzt, da die wiederkehrende Sonne das Frühjahr ankündigt, auf Ihre Zuschrift einiges erwidern, mit welcher Sie mich in den tiefen Wintertagen erfreut haben. Zuvörderst will ich großen Dank an Herrn Professor Dietrich abstatten für die übersendete Differtation, worin ich die Einführung meiner Farbenlehre in die Reihe der übrigen physikalischen Capitel auf das freundlichste anzuerkennen hatte. Es ist dieses ganz in meinem Sinne und meinem älteren Wunsch nach bequem; denn die Natur wird allein verständlich, wenn man die verschiedensten [272] isolirt scheinenden Phänomene in methodischer Folge darzustellen bemüth ist; da man denn wohl begreifen lernt, daß es kein Erstes und Letztes gibt, sondern daß alles, in einem lebendigen Kreis eingeschlossen, anstatt sich zu widersprechen, sich aufklärt und die zartesten Bezüge dem forschenden Geiste darlegt. Möge mir ein solcher Antheil auch bey Ihnen und den werthen geistverwandten Männern immerfort lebendig und wirksam verbleiben.

Denn allerdings muß es mich höchlich freuen, wenn ich meine Arbeit, mit der ich es so ernst wie mit jeder andern viele Jahre genommen, mitten in einem katholischen Lande anerkannt und an die rechte Stelle gesetzt finde, mittlerweile die protestantischen Universitäten und Akademien, welche sich so großer Liberalität und Preßfreiheit rühmen, mein Werk in Verruf gethan, weil es ihren Beschränktheiten widerspricht, und solches dergestalt auf alle Weise beseitigt, daß gleich verboten Buche ein Exemplar nirgends vorgewiesen werden darf und freyeren jüngeren Geistern jede Aussicht versperrt und dadurch gar manche praktisch-nützliche Kenntniß verhindert wird. Dieses weiter auszuführen trage Bedenken und sage nur soviel, um zu zeigen, wie sehr ich Ursache habe, jene in Prag geschehen Vorschritte zu schätzen und anzuerkennen.

Sämmtliche Exemplare der früheren sowohl als letzten Sendung sind mir höchst werth und willkommen, [273] selbst diejenigen wovon ich schon einiges besitze sind vorzüglicher als meine bisherigen. Die Zeiten waren gar zu schön wo wir dem Andalusit auf die Spur kamen und den pseudovulkanischen Problemen einfrigst nachgingen. Nicht unerwartet war mir daher, da Sie sich selbst die Angelegenheit so klar zu machen suchten, daß Sie auch andern einen leichten Weg in dieses herrliche Feld zu eröffnen sich gedrängt fühlen mußten; alles was Sie mir deshalb mitzutheilen und zu melden geneigt sind, wird mir durchaus angenehm seyn, so wie Ihre Enthüllung der archivarisch en Schätze auf unserer Großherzoglichen Bibliothek einen würdigen Platz gefunden hat.

Was Sie von der Cholera melden ist dem bisherigen Verlauf bey uns völlig gleich; im Anfang Apprehension, allgemeine Aufregung, Furcht, Angst Sorge, Abwehrungsanstalten, Heilungseinleitung, so war alles horchend, lesend, denkend, zweifelnd in voller Thätigkeit. Diese Anstrengung ging zuletzt in Gleichgültigkeit über, und wir leben wie zuvor völlig sorglos, jeder nach seiner Weise, die Weimaraner besonders in Vertrauen auf unsre Gebirgshöhe, die das sumpfliebende Ungeheuer nicht ersteigen sollte.

Indem ich das Gegenwärtige vorläufig abschließe, um nicht länger allzusehr Ihr Schuldner zu bleiben, bedaure ich freylich daß die herantretende günstigere Jahrszeit mir nicht auch eine Reise zu Ihnen verkündigt. In meinen Jahren entschließt man sich schwer,[274] alte Gewohnheiten, die, erst willkürlich, dann zum Bedürfniß werden, zu unterbrechen und sich jenen Zufälligkeiten auszusetzen, die man bey einer Ortsveränderung immer zu erwarten oder wohl auch zu befürchten hat.

Unsre dieses Jahr nach Böhmen reisenden Badegäste entlaß ich nicht ohne Brief und Sendung.

treu-freundlichst

Weimar d. 15. März 1832.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1832. An Joseph Sebastian Grüner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7DE9-1