2/88.

An Johann Gottfried Herder

[Wetzlar, Mitte Juli 1772.]

Noch immer auf der Woge mit meinem kleinen Kahn, und wenn die Sterne sich verstecken, schweb' ich so in der Hand des Schicksals hin, und Muth und Hoffnung und Furcht und Ruh wechseln in meiner Brust. Seit ich die Kraft der Worte stêthos und prapides fühle, ist mir in mir selbst eine neue Welt aufgegangen. Armer Mensch, an dem der Kopf alles ist! Ich wohne jetzt in Pindar, und wenn [15] die Herrlichkeit des Pallasts glücklich machte, müßt' ichs sein. Wenn er die Pfeile ein – übern andern nach dem Wolkenziel schießt, steh' ich freilich noch da und gaffe, doch fühl' ich indeß, was Horaz aussprechen konnte, was Quintilian rühmt, und was Thätiges an mir ist, lebt auf, da ich Adel fühle und Zweck kenne. Eidôs phya, psephênos anêr myrian aretan atelei noô geneati, oupot atrekei kateba podi, mathontes pp. Diese Worte sind mir wie Schwerter durch die Seele gegangen. Ihr wißt nun, wie's mit mir aussieht, und was mir Euer Brief in diesem Philoktetschen Zustande worden ist.

Seit ich nichts von Euch gehört habe, sind die Griechen mein einzig Studium. Zuerst schränkt' ich mich auf den Homer ein, dann um den Sokrates forscht' ich in Xenophon und Plato. Da gingen mir die Augen über meine Unwürdigkeit erst auf, gerieth an Theokrit und Anakreon, zuletzt zog mich was an Pindarn, wo ich noch hänge. Sonst hab' ich gar nichts gethan, und es geht bei mir noch alles entsetzlich durch einander. Auch hat mir endlich der gute Geist den Grund meines spechtischen Wesens entdeckt. Ueber den Worten Pindars epikratein dynasthai ist mir's aufgegangen. Wenn du kühn im Wagen stehst, und vier neue Pferde wild unordentlich sich an deinen Zügeln bäumen, du ihre Kraft lenkst, den austretenden herbei, den aufbäumenden hinabpeitschest, und jagst und lenkst, und wendest, peitschest, hältst, und wieder [16] ausjagst, bis aller sechzehn Füße in einem Takt ans Ziel tragen – das ist Meisterschaft, epikratein Virtuosität. Wenn ich nun aber überall herumspaziert bin, überall nur dreingeguckt habe 1, nirgends zugegriffen. Dreingreifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft. Ihr habt das der Bildhauerei vindicirt, und ich finde, daß jeder Künstler, so lange seine Hände nicht plastisch arbeiten, nichts ist. Es ist alles so Blick bei Euch, sagtet Ihr mir oft. Jetzt versteh' ichs, thue die Augen zu und tappe. Es muß gehen oder brechen. Seht, was ist das für ein Musicus, der auf sein Instrument sieht!cheires aaptoi, êtor alkimon das ist alles, und doch muß das alles eins sein, nicht myrian aretan atelei noô geuein Ich möchte beten, wie Moses im Koran: »Herr mache mir Raum in meiner engen Brust!«

Es vergeht kein Tag, daß ich mich nicht mit Euch unterhalte und oft denke, wenn sich's nur mit ihm leben ließe. Es wird, es wird! Der Junge im Küras wollte zu früh mit, und Ihr reitet zu schnell. Genug, ich will nicht müßig sein, meinen Weg ziehen und das Meinige thun; treffen wir einander wieder, so giebt sich's Weitere.

Seit vierzehn Tagen les' ich Eure »Fragmente« zum erstenmal; ich brauch' Euch nicht zu sagen, was [17] sie mir sind. Daß ich Euch, von den Griechen sprechenden, meist erreichte, hat mich ergötzt, aber doch ist nichts wie eine Göttererscheinung über mich herabgestiegen, hat mein Herz und Sinn mit warmer heiliger Gegenwart durch und durch belebt, als das wie Gedank' und Empfindung den Ausdruck bildet. So innig hab' ich das genossen.

Laßt uns, ich bitte Euch, versuchen, ob wir nicht öfter zu einander treten können. Ihr fühlt, wir Ihr den umfassen würdet, der Euch das sein könnte, was Ihr mir seid. Laßt uns nur nicht dadurch, daß wir nothwendig manchmal aneinander gerathen müssen, nicht dadurch wie Weichlinge abgeschreckt werden; stoßen sich unsre Leidenschaften, können wir keinen Stoß aushalten? Das gilt mich mehr als Euch. Genug, habt Ihr was wider mich, so sagts. Grad und ernst, oder bös, grinsend, wie's kommt. – So will ich Euch auch sagen, daß ich letzt über Eure Antwort auf die »Felsweihe« aufgebracht worden bin, und hab' Euch einen intoleranten Pfaffen gescholten; das »Götzenpriester« und »frecher Hand den Namen einzwang,« war nicht recht. Hatte ich unrecht, einen Traueraccord vor Eurem Mädchen zu greifen, mußtet Ihr mit Feuer und Schwert drein tilgen? Ich weiß wohl, das ist Eure Art, Ihr werdet nicht davon lassen; gut. Nur macht im Fall der Walter-Shandyschen Nothwehre nicht so lange Pausen. Was den Punkt betrifft, soll Euch künftig in dem Recht, Eurem [18] Mädchen melancholische Stunden zu machen, kein Eingriff geschehn. Und so hätt' ich das auch vom Herzen.

Von unsrer Gemeinschaft der Heiligen sag' ich Euch nichts. Ich bin neophytos, und im Grund bisher nur neben allen hergegangen; mit Mercken bin ich fest verbündet, doch ist's mehr gemeines Bedürfniß als Zweck.

Von »Berlichingen« ein Wort. Euer Brief war Trostschreiben; ich setzte ihn weiter schon herunter als Ihr. Die Definitiv, »daß Euch Shakespeare ganz verdorben pp.« erkannt' ich gleich in ihrer ganzen Stärke; genug, es muß eingeschmolzen, von Schlacken gereinigt, mit neuem edlerem Stoff versetzt und umgegossen werden. Dann soll's wieder vor Euch erscheinen. Es ist alles nur gedacht. Das ärgert mich genug. »Emilia Galotti« ist auch nur gedacht, und nicht einmal Zufall oder Caprice spinnen irgend drein. Mit halbweg Menschenverstand kann man das Warum von jeder Scene, von jedem Wort, möcht' ich sagen, auffinden. Drum bin ich dem Stück nicht gut, so ein Meisterstück es sonst ist, und meinem eben so wenig. Wenn mir im Grunde der Seele nicht noch so vieles ahndete, manchmal nur aufschwebte, daß ich hoffen könnte »wenn Schönheit und Größe sich mehr in dein Gefühl webt, wirst du Gutes und Schönes thun, reden und schreiben, ohne daß du's weißt, warum.« –

Lebt wohl. Eben krieg' ich Nr. 54 Frankfurter Zeitung.


Note:

[19] 1 Ich kann schreiben, aber keine Federn schneiden, drum krieg' ich keine Hand, das Violoncell spielen, aber nicht stimmen .

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1772. An Johann Gottfried Herder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-7EF0-5