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An Carl Ludwig von Knebel

Die Züge deiner Hand, mein Theuerster, herzlich geliebter und verehrter Freund, waren mir höchst erbaulich, da uns die Nachricht von deinem Mißbehagen gar sehr betrübt und in Sorgen gesetzt hatte. Die Jahrszeit ist zwar günstig genug, aber die langen Abende fordern doch ein körperliches Behagen, um sie durchzuführen.

Auch ich, obgleich näher an dem städtischen Gewerbe, lebe sehr einsam, bringe aber meine Stunden immer thätig zu. Ein Stück Kunst und Alterthum ist wieder bald abgedruckt; die wissenschaftlichen Hefte rücken auch vor, manches andere wird bereitet und besonders biographische Skizzen fleißig gesammelt, so wie auch Monumente früherer Unternehmungen. Freylich verdirbt man in jüngeren Jahren, wo die Kräfte noch beysammen sind, allzu viele Zeit in leidenschaftlichen Irrungen und unzulänglichen Bestreben; indessen soll man aus dem Fluß Lethe noch herauszufischen suchen was möglich ist.

[231] Die jenaischen Ereignisse mußten mich sehr betrüben: denn wenn man bedenkt, was für Lebenstunden und Kräfte man auf diesen Ort verwandt, welche vergnügte Tage man dort genossen, und wie man sich noch täglich zum Besten emsig bemüht; so ist eine zufällige, unnütze, schädliche Verletzung des geliebten Gegenstandes höchst schmerzlich. Nun, hör ich, zieht das Ungewitter abermals vorbey; möge es keine Spur hinterlassen. Indessen vorauszusehen war dergleichen und wird auch in der Folge nicht fehlen.

Der Besuch von Carl hat mich sehr erfreut und war mir höchst angenehm zu sehen, welchen guten Eindruck er auf meine Frauenzimmer gemacht, die als Weltkinder verdienst und Unverdienst der Jünglinge gar wohl zu unterschreiben wissen.

Mit Staatsrath Schulz in Berlin ist die Correspondenz eine Zeither sehr lebhaft. Es geschieht wohl, daß manche Epochen sich in einem reichern wechselseitigern Interesse hervorthun, und da muß man denn nicht feyern; eh' man sich's versieht, tritt wieder etwas wo anders ein und lockt uns vielleicht auf die entgegengesetzte Seite. Dießmal ist der Moment für beide Theile höchst fruchtbar, wovon du nächstens vernehmen wirst.

Manzoni, dessen Ode auf Napoleons Tod dich freuen wird, hat eine neue Tragödie Adelchi aus der longobardischen Geschichte geliefert und gerade [232] des Zeitpunctes, wo Carl der Große bey dem Passe Chiusa gehindert wird nach Italien zu dringen. Das Stück ist ganz im Sinne und Geist des Grafen Carmagnola, nur noch reicher an Characteren und Motiven. Es wird mir ein angenehmes Geschäft seyn, auch diese Arbeit zu entwickeln; ach! warum kann man denn nicht einem deutschen Zeitgenossen den gleichen Liebesdienst erweisen.

Doch um sich hierüber in's Reine zu setzen, muß man in der höheren Kunst allen Nationalvorzügen entsagen. Sind nicht Lord Byrons und Walter Scotts Werke in den Händen aller Deutschen, besonders der zarten und schönen? Sprachstudium und Anerkennung des Nachbarlichen ist zu befördern, damit eine Heerde unter einem Hirten versammelt sey.

Purkinje wird dich gleichfalls sehr interessirt haben. Merkwürdig war mir, wie er sich aus dem Abgrund des Pfaffthums durch eigene Kräfte herausgehoben, sich autodidaktisch entwickelt und gebildet, dabey aber die Richtung in den Abgrund des eigenen Daseyns genommen; deshalb er denn ein freywilliges Märtyrerthum untergangen und sich an sich selbst im Einzelnen und im Ganzen zu belehren und zu begreifen gesucht. Ich sah ihn mit Riemer und Rehbein; gar wunderlich nimmt sich ein solches Wesen unter Protestanten aus, die sich doch immer zwischen der Außen- und Innenwelt im Gleichgewicht zu halten suchen. Ich hätte wohl gewünscht, ihn einige Tage festzuhalten; [233] die große Treue gegen sich selbst, seines innern Wesens und consequenten Wirkens in aller Eigenthümlichkeit zu schauen wäre vieles werth gewesen.

Ein herzliches Lebewohl!

treulichst

Weimar den 14. December 1822.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1822. An Carl Ludwig von Knebel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-805F-F