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An Friedrich Schiller

In der Beylage erhalten Sie meinen Aufsatz, den ich zu beherzigen, anzuwenden, zu modifciren und zu erweitern bitte. Ich habe mich seit einigen Tagen dieser Kriterien beym Lesen der Ilias und des Sophokles bedient, so wie bey einigen epischen und tragischen Gegenständen, die ich in Gedanken zu motiviren versuchte, und sie haben mir sehr brauchbar, ja entscheidend geschienen.

Es ist mir dabey recht aufgefallen wie es kommt, daß wir Moderne die Genres so sehr zu vermischen geneigt sind, ja daß wir gar nicht einmal im Stand sind sie von einander zu unterscheiden. Es scheint [381] nur daher zu kommen, weil die Künstler, die eigentlich die Kunstwerke innerhalb ihren reinen Bedingungen hervorbringen sollten, dem Streben der Zuschauer und Zuhörer, alles völlig wahr zu finden, nachgeben. Meyer hat bemerkt, daß man alle Arten der bildenden Kunst hat bis zur Mahlerey hinantreiben wollen, indem diese durch Haltung und Farben die Nachahmung als völlig wahr darstellen kann. So sieht man auch im Gang der Poesie daß alles zum Drama, zur Darstellung des vollkommen Gegenwärtigen sich hindrängt. So sind die Romane in Briefen völlig dramatisch, man kann deswegen mit Recht förmliche Dialoge, wie auch Richardson gethan hat, einschalten; erzählende Romane mit Dialogen untermischt würden dagegen zu tadeln seyn.

Sie werden hundertmal gehört haben, daß man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat, den Gegenstand auf dem Theater zu sehen, und wie viel schlechte Dramen sind daher entstanden! Eben so wollen die Menschen jede interessante Situation gleich in Kupfer gestochen sehen. Damit nur ja ihrer Imagination keine Thätigkeit übrig bleibe, so soll alles sinnlich wahr, vollkommen gegenwärtig, dramatisch seyn und das dramatische selbst soll sich dem wirklich wahren völlig an die Seite stellen. Diesen eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehn, Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise [382] sondern, jedes bey seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten, so wie es die Alten gethan haben und dadurch eben solche Künstler wurden und waren. Aber wer kann sein Schiff von den Wellen sondern, auf denen es schwimmt? Gegen Strom und Wind legt man nur kleine Strecken zurück.

So war z.B. bey den Alten ein Basrelief ein wenig erhobenes Werk, eine flache, geschmackvolle Andeutung eines Gegenstands auf einer Fläche, allein dabey konnte der Mensch nicht bleiben, es wurde halb erhoben, ganz erhoben, Glieder abgesondert, Figuren abgesondert, Perspective angebracht, Straßen, Wolken, Berge und Landschaften vorgestellt, und weil nun auch dies durch Menschen von Talent geschah so fand das völlig unzulässige desto eher Eingang, als man es dadurch gerade dem ungebildeten Menschen desto mehr nach seinem Sinne machte. So kommt unter Meyers Abhandlung die sehr artige, hierher gehörige Geschichte vor, wie man in Florenz die Figuren aus Thon glasirt und erst einfärbig, dann mehrfärbig gemahlt und emaillirt hat.

Um nun zu meinem Aufsatze zurückzukommen, so habe ich den darinn aufgestellten Maßstab an Herrmann und Dorothea gehalten und bitte Sie desgleichen zu thun, wobey sich ganz interessante Bemerkungen machen lassen, als z.B.

1. Daß kein ausschließlich episches Motiv, das heißt kein retrogradirendes, sich darinn befinde, sondern [383] daß nur die vier andern, welche das epische Gedicht mit dem Drama gemein hat, darinn gebraucht sind.

2. Daß es nicht außer sich wirkende, sondern nach innen geführte Menschen darstellt und sich auch dadurch von der Epopée entfernt und dem Drama nähert.

3. Daß es sich mit Recht der Gleichnisse enthält, weil bey einem mehr sittlichen Gegenstande das Zudringen von Bildern aus der physischen Natur nur mehr lästig gewesen wäre.

4. Daß es aus der dritten Welt, ob gleich nicht auffallend, noch immer genug Einfluß empfangen hat, indem das große Weltschicksal theils wirklich, theils durch Personen, symbolisch, eingeflochten ist und von Ahndung, von Zusammenhang einer sichtbaren und unsichtbaren Welt doch auch leise Spuren angegeben sind, welches zusammen nach meiner Überzeugung an die Stelle der alten Götterbilder tritt, deren physisch-poetische Gewalt freylich dadurch nicht ersetzt wird.

Schließlich muß ich noch von einer sonderbaren Aufgabe melden, die ich mir in diesen Rücksichten gegeben habe, nämlich zu untersuchen: ob nicht zwischen Hektors Tod und der Abfahrt der Griechen von der Troianischen Küste, noch ein episches Gedicht inne liege? oder nicht? ich vermuthe fast das letzte und zwar aus folgenden Ursachen:

[384] 1. Weil sich nichts retrogradirendes mehr findet, sondern alles unaufhaltsam vorwärts schreitet.

2. Weil alle noch einigermaßen retardirende Vorfälle das Interesse auf mehrere Menschen zerstreuen und, obgleich in einer großen Masse, doch Privatschicksalen ähnlich seyn. Der Tod des Achills scheint mir ein herrlich tragischer Stoff, der Tod des Ajar, die Rückkehr des Philoktets sind uns von den Alten noch übrig geblieben. Polyxena und Hekuba und andere Gegenstände aus dieser Epoche waren auch behandelt. Die Eroberung von Troja selbst ist, als Erfüllungsmoment eines großen Schicksals, weder episch noch tragisch und kann bey einer ächten epischen Behandlung nur immer vorwärts oder rückwärts in der Ferne gesehen werden. Virgils rhetorisch-sentimentale Behandlung kann hier nicht in Betracht kommen.

So viel von dem was ich gegenwärtig einsehe, salvo meliori, denn, wenn ich mich nicht irre, so ist diese Materie, wie viele andere, eigentlich theoretisch unaussprechlich. Was das Genie geleistet hat sehen wir allenfalls, wer will sagen was es leisten könnte oder sollte.

Nun da die Boten gehen, nur noch ein Lebewohl für Sie und Ihre liebe Frau. Halten Sie sich ja stille bis die böse Zeit vorüber ist. Von unserm Almanach höre ich überall her manches gute. Wann ich kommen kann weiß ich noch nicht, die Theaterangelegenheiten halten mich fürcht ich länger als ich [385] glaubte, so lebhaft auch mein Wunsch ist Sie wiederzusehen. Nochmals ein Lebe wohl.

Weimar am 23. Dec. 1797.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1797. An Friedrich Schiller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8112-4