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An Ernst Heinrich Friedrich Meyer

Es glückte mir vielleicht jetzt noch nicht, für Ihren werthen Brief vom 4. May schönstens zu danken, läge nicht beykommendes Paquetchen Samen schon einige Zeit vor mir, das ich Ihnen bestimmte, mit dem Wunsch: es möge etwas Bedeutendes darin enthalten seyn.

Den 15. Paragraph der Metamorphose werde, sobald ich wieder an die Sache komme, gern nochmals durchdenken. Ich habe freylich gar zu wenig Respect vor den Internodien, doch will ich den Punct nach Ihrer Andeutung nochmals prüfen.

Die Franzosen oder vielmehr die Genfer sind wunderliche Leute; sie wollen, nachdem die Idee vierzig Jahre im Stillen gewirkt hat, a posteriori dazu gekommen seyn. [307] Wie nimmt sich's aber auch aus! Es machte mir viel Mühe, den freyen lebendigen Gedanken aus dem Capitel La Symmetrie des plantes herauszufinden, und da gewahrte ich denn zuletzt jene höchst einfache unerforschliche, aber doch gewahrliche Wirkung der Natur, durch Mißbildungen, Verschmelzungen, Verwaschungen, Verkrüppelungen und Verkümmerungen endlich mühsam hervortretend.

In der Anwendung als Begriff kommt sie ihnen zu statten, und da mag es denn auch gut seyn. Komm ich noch dazu, die Übersetzung mit einigen Bemerkungen herauszugeben, muß man hierüber mäßig und duldsam verfahren und dabey bedenken: daß eine jede Idee immer als ein fremder Gast in die Erscheinung tritt, und, wie sie sich zu realisiren beginnt, kaum von der Phantasie und Phantasterey zu unterscheiden ist.

Schreiben Sie mir von Zeit zu Zeit, machen Sie mich aufmerksam auf das, was in diesem Felde jetzt vorgeht; ich komme als ein Epimenides hinein. Erst vergangenen Herbst, bey einem ländlichen Aufenthalte, las ich, erstenmale seit vielen Jahren, hierauf Bezügliches. Decandolles Organographie und Eléments de botanique ließ ich mir wohlgefallen.

Gräßlicher aber ist mir nichts entgegen gekommen als Links Philosophia botanica. Die Organisation meines Gehirns wird von einer Art Wahnsinn bedroht, wenn ich mir jene lieben und beliebten Gegenstände [308] mit ihren Eigenschaften und Wesenheiten in solchen Combinationen denken soll. Ich mußte es bey Zeiten weglegen. Sie werden, mein Theuerster, dieses mein aufrichtiges Bekenntniß belächeln und den pathologischen Zustand, in den mich das Werk versetzte, als Meister der Kunst beurtheilen und lociren können.

Wenn bey einem großen Unglück unsre Freunde verschon worden, so ist es eben, als wenn wir uns selbst gerettet finden. Höchst erfreulich war mir daher, daß Sie und Ihre Umgegend nicht auf eine so grausame Weise wie andere der benachbarten Uferbewohner verletzt worden.

Halb ernst-, halb scherzhaft vermelde, daß das einzige Samen-Korn des Anthericum comosum St., das ich gerettet und im Januar der Erbe anvertraut, wirklich aufgegangen ist. Das Pflänzchen brach zufällig von der Wurzel ab; man sah aber, wie es dalag, am untern Ende eine Aufschwellung mit einer kleinen hervortretenden Zitze, nach Analogie der künftigen Luftwurzeln; das wollte sich aber nicht regen, noch rühren, wurzelte nicht und verdorrte nicht, bis es endlich nach fünf Monaten anschlug und jetzo, also im sechsten, erst drey frische lebhafte Blättchen hat.

Ich habe indessen andere Aufschwellung, viel weniger eine Zitze. Dort ist also die künftige Luftwurzel sogleich im ersten Rudiment charakteristisch angedeutet. Sie verfolgen wohl geneigt diese Betrachtungen.

[309] Hiemit aber will ich schließlich und diesen Brief lieber als Ankündigung des nächstens mit der fahrenden Post abgehenden Paquetchens voraussenden.

treu auf- und theilnehmend

Weimar den 26. Juni 1829.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Ernst Heinrich Friedrich Meyer. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-824A-D