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An Carl Friedrich Moritz PaulGraf von Brühl

Wenn ich Sie, mein theuerster Freund, den ich in so manchen anmuthigen und hoffnungsvollen Zuständen mit immer gleicher wechselseitiger Neigung gesehen, gefunden und wieder gefunden, nunmehr in dem lieben heitern Seifersdorf, dessen Name mir so viele willkommene Erinnerungen hervorruft, und dessen höchst glückliche Erneuerung Sie mir mitzutheilen so freundlich waren, wenn ich Sie nunmehr in einem tief traurigen, verlustfühlenden, selbst kranken Zustand daselbst gedenke, so ist mir ganz eigens zu Muthe.

Denn als ich Ihr liebes tröstliches Schreiben vom 25. August erhielt, mußte ich mich glücklich preisen, daß nach dem herben Falle, der mich betroffen hatte, wie das Geschick nur einzig in seiner Art irgend einen Menschen befallen konnte, mir doch noch vieljährig geprüfte Freunde übrig geblieben, die durch Neigung, Wohlwollen und Theilnahme geneigt schienen über die ungeheure Lücke, die in mein Leben gerissen worden, wieder einen gemüthlichen Stieg in die Gefilde des Lebens hinüberzuschlagen.

Damals konnte und durft ich nicht denken, daß ich Sie, mein Werthester, auf ein ähnliche, gleiche, noch gesteigerte Weise verletzt finden würde.

Bey denen unendlich mannichfaltigen Verkreuzungen der irdischen Schicksale lassen wir uns allenfalls dasjenige [30] gefallen, was einem gewissen Naturgang analog zu seyn scheint. Wenn die Älteren abgerufen werden, so mag es gelten, denn das ist im Flusse der Jahre doch immer das regelmäßige Hingehen; deswegen wir auch die Geschichte der alten Patriarchen immer mit Vergnügen wieder lesen, weil derjenige, der in hohen Jahren zu seinen Vätern versammelt wird, eben so gut seinen Platz einnimmt als der Bräutigam neben der Braut am Hochzeittage. Dieß müssen wir zugeben, weil ja sonst keine Folge der Zustände denkbar wäre.

Kehrt es sich aber um und der Jüngere geht vor dem Ältern hin, so empört es uns, weil wir denken, die Natur sollte wenigstens eben so vernünftig seyn als wir selbst, die wir doch eigentlich nur dadurch Menschen sind, daß wir unsern Zuständen eine gewisse Folge zu geben trachten; weil wir sehr elende Creaturen wären, wenn wir nicht auf Morgen und Übermorgen, auf's nächste Jahr und Jahrzehend uns, und was sich mit uns vereint hat, zu versorgen und sicher zu stellen trachteten.

Vorstehendes war gleich nach Empfang Ihres theuren Briefes geschrieben; auf einmal aber hielt ich inne, denn ich fühlte wohl, hier stehe das große Problem vor mir, welches aufzulösen dem Menschen wohl nicht gegeben seyn möchte.

[31] Betrachten wir uns in jeder Lage des Lebens, so finden wir, daß wir äußerlich bedingt sind, vom ersten Athemzug bis zum letzten; daß uns aber jedoch die höchste Freyheit übrig geblieben ist, uns innerhalb unsrer selbst dergestalt auszubilden, daß wir uns mit der sittlichen Weltordnung in Einklang setzten und, was auch für Hindernisse sich hervorthun, dadurch mit uns selbst zum Frieden gelangen können.

Dieß ist bald gesagt und geschrieben, steht aber auch nur als Aufgabe vor uns, deren Auflösung wir unsre Tage durchaus zu widmen haben. Jeder Morgen ruft zu: das Gehörige zu thun und das Mögliche zu erwarten.

Mehr nicht für dießmal. Bleiben Sie meiner innigsten Theilnahme gewiß. Meine aufrichtigsten Grüße und Wünsche Ihnen und Ihren lieben Angehörigen.

Und nun vergönnen Sie noch eine Anfrage. Sie erinnern sich, daß ich das Porträt Ihres lieben Kleinen damals zeichnen ließ; erregt Ihnen der Anblick nicht wieder neue Schmerzen, so steht das Original zu Diensten und ich behalte eine Copie zurück. Auf jeden Fall soll es Ihnen zu jeder Zeit und Stunde verwahrt seyn.

Mit herzlichster Versicherung treuster Anhänglichkeit.

Weimar den 23. October 1828.

J. W. v. Goethe. [32]

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Zitationsvorschlag für dieses Objekt
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Carl Friedrich Moritz PaulGraf von Brühl. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-82C3-E