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An Carl Friedrich von Reinhard

Seit meiner Rückkunst von meinem Badereisen bin ich so mancherley Geschäfte und Verrichtungen verwickelt worden, daß ich auf kurze Zeit nach Jena gehen mußte, um nur einigermaßen meine Brief- und Literaturschulden abzuthun. Hier benutze ich auch eine einsame Stunde, um Ihnen verehrter Freund, für die freundlichen Schreiben zu danken, die ich von ihnen erhielt. Lassen Sie mich, in Erwiederung derselben, mancherley erzählen.

Das etwas schwierige Unternehmen auf unserm Theater eine italiänische Oper zu geben, machte mir viel Mühe und kostete mir viel Zeit. Endlich aber, da es glücklich und zu Jedermanns Zufriedenheit gelang, so fand ich mich auch getröstet und ging, wie man es immer macht, wieder neue Schwierigkeiten aufzusuchen. Der übrige Lauf des Geschäfts- und Hoflebens nimmt denn auch den größten Theil der kurzen Tage weg, und die Nacht, wie der Winter, ist keiner Thätigkeit Freund. Viel Communicables habe ich nicht geleistet. An er Hackertschen Biographie [20] wird gedruckt, und sie wird Ihnen einiges Vergnügen machen. Wenigstens stellt sie ein thätiges, bedeutendes, glückliches und im Unglück sich wiederherstellendes Leben dar.

Daß meine Pandora in Ihnen den Wunsch erregt hat wieder einmal mit mir zu unterhalten freut mich sehr. Ich erinnerte mich dabey eines schmeichelnden Vorwurfs, den mir einst ein Jugendfreund machte, indem er sagte: Das was Du lebst ist besser als das was Du schreibst; und es sollte mir lieb seyn, wenn es noch so wäre. Jenes Werkchen ist freylich etwas lakonisch zusammengearbeitet; aber nicht des Buchhändlers sondern meine Schuld ist, daß sie nur vier Bogen davon erhalten haben: denn die übrigen sind noch nicht gedruckt, ja noch nicht einmal geschrieben.

Da diese Wintertage sich mehr zur Reflexion als Production schicken, so habe ich des Herrn Degerando Histoire comparée des Systèmes de Philosophie gelesen und mich dabey meines Lebens und Denkens von Jugend auf erinnern können. Denn die sämmtlichen möglichen Meinungen gehn uns doch nach und nach, theils historisch, theils productiv durch den Kopf. Bey Lesung dieses Werks begriff ich aufs Neue, was der Verfasser auch sehr deutlich ausspricht: daß die verschiedenen Denkweisen in der Verschiedenheit der Menschen gegründet sind, und eben deshalb eine gleichförmige Überzeugung unmöglich ist. [21] Wenn man nun weiß, auf welcher Seite man steht, so hat man schon genug gethan; man ist alsdann ruhig gegen sich und billig gegen andere. Übrigens muß man doch gestehen, daß ein Franzose, wenn er einmal vermitteln will, ein sehr bequemes Organ an seiner Sprache findet.

Haben Sie das Werk des Heron de Billefosse: De la Richesse minerale gesehen? wovon der erste Theil Division économique herausgekommen. Hier hat die französische Natur auf deutschem Grund und Boden und größtentheils mit deutschen Materialien ein Musterstück geliefert. Es ist werth, daß es jeder Staats-und Weltmann, wo nicht durchstudire, doch durchblättere. Es ist eine sehr bequeme Weise belehrend. Sollten Sie es noch nicht gesehen haben so empfehle ich es besonders, weil es vom Königreich Westphalen ausgeht, an dem Sie doch gegenwärtig in manchem Sinne Theil zu nehmen Ursache haben.

Den Brief des guten Boisserée beantwortete ich ehstens ausführlicher. Haben Sie indeß Gelegenheit ihm zu sagen, daß nach unserer Meinung denn doch vielleicht für diese perspectivischen Blätter die aqua [22] tina das Beste seyn möchte. Sie giebt in Absicht auf Haltung und Leichtigkeit der Arbeit gar viele Vortheile, und wenn man 500 Exemplare eines solchen Werks, als soweit wohl die guten Abdrücke reichen, verkauft; so können Autor und Verleger immer zufrieden seyn. Doch ist das nur eine Meinung, und wir lassen gern eine andere Überzeugung gelten. Jeder muß freylich sehen wie er am Ende selbst sich nothdürftig rathen kann. Auf alle Fälle würden die werthen Cöllner zur guten Jahreszeit hier wohl aufgenommen seyn. Der Erbprinz, der sie in Heidelberg sah, hat sie zum schönsten und vortheilhaftesten angemeldet.

In meiner Jenaischen Einsamkeit komme ich auch dazu, manche Schriften zu überlesen oder zu überlaufen, die lang vor mir vorbeygerannt sind. Da habe ich denn auch Brandes Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland angesehen, und mir die vergangenen Zustände daraus wieder vergegenwärtigt. So viel Gutes dieses Büchlein hat und so nützlich man es verarbeiten könnte, so ist es doch äußerst widerborstig gedacht und geschrieben, so daß es einem auch nicht einmal in der Reflexion wohl wird, wo sich denn doch zuletzt alles Verdrießliche des Lebens und Daseyns freundlich auslösen müßte. Hier, wie in so manchen andern Fällen, kommt einem die Empirie, die sich mit der Empirie herumschlägt, ganz lächerlich vor. Es ist immer als sähe man [23] indianische Götter, wo einer zehn Köpfe, der andere hundert Arme, und der dritte tausend Füße hätte, und diese här'ten sich nun mit einander herum, flickten sich am Zeuge wo sie könnten und keiner würde der andern Herr.

Soviel für heute. Der Raum verbietet mehr als ein herzliches Lebewohl zu sagen.

Weimar den 22. Januar 1811.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1811. An Carl Friedrich von Reinhard. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8308-E