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An Friedrich Schiller

[21. Februar.]

Jedem der Mittwochs oder Sonnabends früh in mein Zimmer kommt wird auf die Finger gesehen ob er nicht einen Brief von Ihnen bringe, und da ich heute dieses ersehnte Frühstück entbehren mußte so hat mir ein blaues Couvert am Abend desto mehr Freude gemacht.

[75] Unsern Schweden den Sie trefflich geschildert haben habe ich noch morgen zu bleiben beredet. Unsere Frauen in Weimar bedürfen gar sehr solcher fremden Erscheinungen, und ich mag ihnen, da sie sonst so wenig Vergnügen haben, dergleichen gerne gönnen. Gewiß sind diese Naturen sehr wünschenswerth weil sie zur affirmativen Seite gehören und doch immer Talente in der Welt supponiren müssen, wenn ihr Talent gelten soll.

Ich kann nicht ausdrucken wie sehr ich hoffe die Resultate Ihrer Arbeiten zu sehen und mich mit Ihnen über so vieles zu unterhalten. Hätten mich die Stuttgarder nicht ohne Antwort gelassen, so daß ich über Thoureths Ankunft ungewiß wäre, so hätte ich schon vor einigen Tagen zu Ihnen kommen können.

Ich erinnere mich kaum was ich heute früh über den rationellen Empirism schrieb, mir scheint es aber als wenn er auf seinem höchsten Puncte auch nur kritisch werden könnte. Er muß gewisse Vorstellungsarten neben einander stehen lassen, ohne daß er sich untersteht eine auszuschließen oder eine über das Gebiet der andern auszubreiten. In der ganzen Geschichte der Farbenlehre scheint mir dies der Fehler, daß man die drey Eintheilungen nicht machen wollte und daß man die empirischen Enunciacionen, die auf eine Abtheilung der Erfahrungen paßten, auf die andere ausdehnen wollte, da denn zuletzt nichts mehr paßte.

[76] Eben so scheint es mir mit Ideen zu seyn die man aus dem Reiche des Denkens in das Erfahrungsreich hinüberbringt, sie passen auch nur auf Einen Theil der Phänomene und ich möchte sagen, die Natur ist deswegen unergründlich weil sie nicht Ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beysammen ist, so hat die Natur gut Spiel sich vor unsern Augen zu verstecken.

In Schellings Ideen habe ich wieder etwas gelesen und es ist immer merkwürdig sich mit ihm zu unterhalten. Doch glaube ich zu finden daß er das, was den Vorstellungsarten die er in Gang bringen möchte widerspricht, gar bedächtig verschweigt, und was habe ich denn an einer Idee die mich nöthigt meinen Vorrath von Phänomenen zu verkümmern.

Von der andern Seite sind die Mathematiker, welche ungeheure Vortheile haben der Natur zu Leibe zu gehen, auch oft in dem Falle das interessanteste zu tuschen. Ein alter Hofgärtner pflegte zu sagen: die Natur läßt sich wohl forciren aber nicht zwingen, und alles was wir theoretisch gegen sie vornehmen sind Approximationen bey denen die Bescheidenheit nicht genug zu empfehlen ist. Es war mir neulich sehr interessant Lamberts Photometrie durchzugehen der wirklich liebenswürdig erscheint, indem er seinen Gegenstand für unerreichbar erklärt und zugleich die äußerste Mühe anwendet ihm beyzukommen.

[77] Das soll nun alles, besonders wenn ich meine Arbeit erst vorlegen kann, zu den besten Gesprächen Anlaß geben.

So weit war ich am Mittwoch gekommen. Was ich gestern dictirte hat gar keine Gestalt. Und doch soll dies Blatt heute Abend zu Ihnen. Die Herrschaft ist nach Gotha. Diesen ganzen ruhigen Tag habe ich mit neuen Bibliotheks Einrichtungen zugebracht, wobey noch nichts gewonnen ist als was sich von selbst verstünde.

Leben Sie recht wohl und erfreuen mich Mittwoch wieder mit einem Briefe.

Weimar am 25. Febr. 98.

G. [78]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1798. An Friedrich Schiller. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8347-F