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An Thomas Carlyle

In einem Schreiben vom 15. May, welches ich mit der Post absendete und Sie hoffentlich zu rechter Zeit werden erhalten haben, vermeldete ich, wieviel Vergnügen mir Ihre Sendung gebracht. Sie fand mich auf dem Lande, wo ich sie mit mehrerer Ruhe betrachten und genießen konnte. Gegenwärtig sehe ich mich in dem Stande, auch ein Paquet an Sie abzuschicken mit dem Wunsche freundlicher Ausnahme.

Lassen Sie mich vorerst, mein Theuerster, von Ihrer Biographie Schillers das Beste sagen: sie ist merkwürdig, indem sie ein genaues Studium der Vorfälle seines Lebens beweist, so wie denn auch das Studium seiner Werke und eine innige Theilnahme an denselben daraus hervorgeht. Bewundernswürdig ist es wie Sie sich auf diese Weise eine genügende Einsicht in den Character und das hohe Verdienstliche dieses Mannes verschafft, so klar und so gehörig als es kaum aus der Ferne zu erwarten gewesen.

Hier bewahrheitet sich jedoch ein altes Wort: »Der gute Wille hilft zu vollkommner Kenntniß.« Denn gerade daß der Schottländer den deutschen Mann mit Wohlwollen anerkennt, ihn verehrt und liebt, dadurch wird er dessen trefflich Eigenschaften am sichersten gewahr, dadurch erhebt er sich zu einer Klarheit zu der sogar Landsleute des Trefflichen in früheren Tagen [267] nicht gelangen konnten; denn die Mitlebenden werden an vorzüglichen Menschen gar leicht irre: das Besondere der Person stört sie, das laufende bewegliche Leben verrückt ihre Standpuncte und hindert das Kennen und Anerkennen eines solchen Mannes.

Dieser aber war von so außerordentlicher Art, daß der Biograph die Idee eines vorzüglichen Mannes vor Augen halten und sie durch individuelle Schicksale und Leistungen durchführen konnte, und sein Tagewerk dergestalt vollbracht sah.

Die vor den German romance mitgetheilten Notizen über das Leben Musäus', Hoffmanns, Richters pp. kann man in ihrer Art gleichfalls mit Beyfall aufnehmen; sie sind mit Sorgfalt gesammelt, kürzlich dargestellt und geben von eines jeden Autors individuellem Charakter und der Einwirkung desselben auf seine Schriften genugsame Vorkenntniß.

Durchaus beweist Herr Carlyle eine ruhige klare Theilnahme an dem deutschen poetisch-literarischen Beginnen; er gibt sich hin an das eigenthümliche Bestreben der Nation, er läßt den Einzelnen gelten, jeden an seiner Stelle.

Sey mir nun erlaubt, allgemeine Betrachtungen hinzuzufügen, welche ich längst bey mir im Stillen hege und die mir bey den vorliegenden Arbeiten abermals frisch aufgeregt worden:

Offenbar ist das Bestreben der besten Dichter und ästhetischen Schriftsteller aller Nationen schon seit[268] geraumer Zeit auf das allgemein Menschliche gerichtet. In jedem Besondern, es sey nun historisch, mythologisch, fabelhaft, mehr oder weniger willkürlich ersonnen, wird man durch Nationalität und Persönlichkeit hindurch jenes Allgemeine immer mehr durchleuchten und durchschimmern sehn.

Da nun auch im praktischen Lebensgange ein Gleiches obwaltet und durch alles Irdisch-Rohe, Wilde, Grausame, Falsche, Eigennützige, Lügenhafte sich durchschlingt, und überall einige Milde zu verbreiten trachtet, so ist zwar nicht zu hoffen, daß ein allgemeiner Friede dadurch sich einleite, aber doch daß der unvermeidliche Streit nach und nach läßlicher werde, der Krieg weniger grausam, der Sieg weniger übermüthig.

Was nun in den Dichtungen aller Nationen hierauf hindeutet und hinwirkt, dieß ist es was die übrigen sich anzueignen haben. Die Besonderheiten einer jeden muß man kennen lernen, um sie ihr zu lassen, um gerade dadurch mit ihr zu verkehren; denn die Eigenheiten einer Nation sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja sie machen ihn erst vollkommen möglich.

Verzeihen Sie mir, mein Werthester, diese vielleicht nicht ganz zusammenhängenden, noch alsbald zu überschauenden Äußerungen; sie sind geschöpft aus dem Ocean der Betrachtungen, der um einen jeden Denkenden mit den Jahren immer mehr anschwillt.[269] Lassen Sie mich noch einiges hinzufügen, welches ich bey einer andern Gelegenheit niederschrieb, das sich jedoch hauptsächlich auf Ihr Geschäft unmittelbar beziehen läßt:

Eine wahrhaft allgemeine Duldung wird am sichersten erreicht, wenn man das Besondere der einzelnen Menschen und Völkerschaften auf sich beruhen läßt, bey der Überzeugung jedoch festhält, daß das wahrhaft Verdienstliche sich dadurch auszeichnet, daß es der ganzen Menschheit angehört. Zu einer solchen Vermittlung und wechselseitigen Anerkennung tragen die Deutschen seit langer Zeit schon bey.

Wer die deutsche Sprache versteht und studirt befindet sich auf dem Markte wo alle Nationen ihre Waren anbieten, er spielt den Dolmetscher indem er sich selbst bereichert.

Und so ist jeder Übersetzer anzusehen, daß er sich als Vermittler dieses allgemein geistigen Handels bemüht, und den Wechseltausch zu befördern sich zum Geschäft macht. Denn, was man auch von der Unzulänglichkeit des Übersetzens sagen mag, so ist und bleibt es doch eins der wichtigsten und würdigsten Geschäfte in dem allgemeinen Weltwesen.

Der Koran sagt: »Gott hat jedem Volke einen Propheten gegeben in seiner eignen Sprache.« So ist jeder Übersetzer ein Prophet seinem Volke. Luthers Bibelübersetzung hat die größten Wirkungen hervorgebracht, wenn schon die Kritik daran bis auf den [270] heutigen Tag immerfort bedingt und mäkelt. Und was ist denn das ganze ungeheure Geschäft der Bibelgesellschaft, als das Evangelium einem jeden Volke in seiner eignen Sprache zu verkündigen.

Hier lassen Sie mich schließen, wo man in's Unendliche fortfahren könnte, und erfreuen Sie mich bald mit einiger Erwiderung, wodurch ich Nachricht erhalte, daß gegenwärtige Sendung zu Ihnen gekommen ist.

Zum Schlusse lassen Sie mich denn auch Ihre liebe Gattin begrüßen, für die ich einige Kleinigkeiten, als Erwiderung ihrer anmuthigen Gabe, beyzulegen mir die Freude mache. Möge Ihnen ein glückliches Zusammenleben viele Jahre bescheert seyn.

Nach allem diesen finde ich mich doch noch angeregt, einiges hinzuzufügen: möge Herr Carlyle alles Obige freundlich aufnehmen und durch anhaltende Betrachtung in ein Gespräch verwandeln, damit es ihm zu Muthe werde, als wenn wir persönlich einander gegenüber ständen.

Hab ich ihm ja sogar noch für die Bemühung zu danken, die er an meine Arbeiten gewendet hat, für den guten und wohlwollenden Sinn, mit dem er von meiner Persönlichkeit und meinen Lebensereignissen zu sprechen geneigt war. In dieser Überzeugung darf ich mich denn auch zum voraus freuen, daß künftighin, wenn noch mehrere von meinen Arbeiten ihm bekannt werden, besonders auch, wenn meine Correspondenz [271] mit Schillern erscheinen wird, er weder von diesem Freunde noch von mir seine Meinung ändern, sondern sie vielmehr durch manches Besondere noch mehr bestätigt finden wird.

Das Beste herzlich wünschend,

treu theilnehmend

Weimar d. 20. Jul. 1827.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Thomas Carlyle. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-83B2-0