[70] 10/3207a.

An N.N.

[Concept.]

[vor dem October 1795.]

Ew. Hochwohlgeboren

Erzeigen mir eine Ehre, die ich zu verdienen wünsche, indem Sie mich auf eine Weise vor unserm Vaterlande nennen, welche zugleich Zutrauen in meine Talente und meinen Charakter zeigt. Nicht ohne schmerzliche Theilnehmung habe ich bisher dem Laufe der Sache zugesehen, als Schriftsteller wenig und als Privatmann das Mögliche gethan, um durch Klarheit und Mäßigung den Parteygeist wenigstens in einem kleinen Zirkel zu mindern und ins Gleichgewicht zu bringen.

Nichts wünschenswerther wäre für einen Schriftsteller, der sich schmeicheln darf ein geneigtes Gehör bey seiner Nation zu finden, [als] als Organ des thätigen, anführenden, rettenden Theils der Nation aufzutreten, da so viele ihr Talent mißbrauchen, gefährliche Schwingungen zu vermehren und den kleinen widerstrebenden hindernden Partheysinn zu begünstigen.

Nur der aufgeopfert, oder der aufzuopfern hat, sollte eine Stimme haben, die alsdenn, wie nunmehr die Ihrige, mit Ernst und Würde sich hören läßt. Sollten wir auch die unmittelbare Wirkung solcher Aufforderungen nicht sehen, so wird doch dadurch die

[70] Nothwendigkeit eines thätigen Angriffs jedermann immer deutlicher; die Menschen werden zu demjenigen nach und nach vorbereitet, dem sie doch nicht ausweichen können.

Soll ich aufrichtig seyn, so muß ich bekennen, daß es noch eher möglich seyn möchte die gebietende Classe Deutschlands zu einem übereinstimmend wirkenden Vertheidigungsplan zu bewegen, als ihnen Zutrauen gegen ihre Schriftsteller einzuflößen. Die Ursachen, die von beyden Seiten diesem Vertrauen entgegen stehen, sind Ew. hinreichend bekannt und meine wenige Erfahrungen können nur einige traurige Wahrheiten bestätigen. Übrigens darf ich versichern, daß in meine Meynungen und Absichten sich diese Zeit her nichts eingemischt habe, dessen sich ein biederer Deutscher schämen dürfe. Leider muß man nur meistentheils verstummen, um nicht, wie Cassandra, für wahnsinnig gehalten zu werden, wenn man das weissagt, was schon vor der Thür ist. Ich empfehle mich Ew. p. fernern geneigten Andenken.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1795. An N.N.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8409-4