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An Franz Bernhard von Bucholtz

Weimar den 14. Februar 1814.

Unter die schönen Früchte, welche mir die Reise meines Sohnes gebracht, habe ich vorzüglich Ihren lieben und zutraulichen Brief zu rechnen, für welchen hiermit zu danken nicht ermangle. Da ein jeder mit oder wider Willen beschäftigt ist, sich den großen Ereignissen des Tages, wenigstens in Gedanken, gleichzustellen, so machte es mir viel Freude zu sehen, wie jüngere Männer sich dieser hoffnungsreichen Periode zubilden. Sowohl durch Ihren werthen Brief, als durch eine kleine Druckschrift, wird es mir möglich, mich an Ihre Seite zu versetzen; ich glaube daraus [150] Ihre Lage und Ihre Denkart erkannt zu haben; zu beyden wünsche ich Glück. Lassen Sie mich etwas von meinen Betrachtungen hinzusetzen.

Die Vereinigung und Beruhigung des deutschen Reiches im politischen Sinne überlassen wir Privatleute, wie billig, den Großen, Mächtigen und Staatswesen. Über einen moralischen und literarischen Verein aber, welche bey uns wo nicht für gleichgeltend doch wenigstens für gleichschreitend geachtet werden können, sey es uns dagegen erlaubt zu denken, zu reden. Eine solche Vereinigung nun, die religiöse sogar mit eingeschlossen, wäre sehr leicht, aber doch nur durch ein Wunder zu bewirken, wenn es nämlich Gott gefiele, in Einer Nacht den sämmtlichen Gliedern deutscher Nation die Gabe zu verleihen, daß sie sich am andern Morgen einander nach Verdienst schätzen könnten. Da nun aber dieses nicht zu erwarten steht, so habe ich alle Hoffnung aufgegeben, und fürchte, daß sie nach wie vor sich verkennen, mißachten, hindern, verspäten, verfolgen und beschädigen werden.

Dieser Fehler der Deutschen, sich einander im Wege zu stehen, darf man es anders einen Fehler nennen, diese Eigenheit ist um so weniger abzulegen, als sie auf einem Vorzug beruht, den die Nation besitzt und dessen sie sich wohl ohne Übermuth rühmen darf, daß nämlich vielleicht in keiner andern so viel vorzügliche Individuen geboren werden und neben einander existiren. Weil nun aber jeder bedeutende [151] Einzelne Noth genug hat, bis er sich selbst ausbildet, und jeder Jüngere die Bildungsart von seiner Zeit nimmt, welche den Mittleren und Älteren mehr oder weniger fremd bleibt; so entspringen, da der Deutsche nichts Positives anerkennt und in steter Verwandlung begriffen ist, ohne jedoch zum Schmetterling zu werden, eine solche Reihe von Bildungsverschiedenheiten, um nicht Stufen zu sagen, daß der gründlichste Etymolog nicht dem Ursprung unsers babylonischen Idioms, und der treueste Geschichtsschreiber nicht dem Gange einer sich ewig widersprechenden Bildung nachkommen könnte. Ein Deutscher braucht nicht alt zu werden, und er findet sich von Schülern verlassen, es wachsen ihm keine Geistesgenossen nach; jeder, der sich fühlt, fängt von vorn an, und wer hat nicht das Recht, sich zu fühlen? So, durch Alter, Facultäts- und Provinzial-Sinn, durch ein auf so manche Weise hin und wieder schwankendes Interesse, wird jeder in jedem Augenblicke verhindert, seine Vorgänger, seine Nachkommen, ja seinen Nachbar kennen zu lernen.

Da nun dieses Mißverhältniß in der nächsten Zeit immer zunehmen muß, indem außer den vom Druck Befreyten und wieder neu Auflebenden, nun auch noch die große Masse derer, welche durch kriegerische Thatkraft die heilsame Veränderung bewirkten, ein entschiedenes Recht haben zu meinen, weil sie geleistet haben: so muß der Conflict immer wilder, [152] und die Deutschen mehr als jemals, wo nicht in Anarchie, doch in sehr kleine Parteien zerplittert werden. Verzeihen Sie mir, daß ich so grau sehe; ich thue es, um nicht schwarz zu sehen; ja manchmal erscheint mir dieses Gemisch farbig und bunt. Gebe uns das gute Glück eine feste politische Lage, so wollen wir die obige Jeremiade in Scherz- und Spaßlieder umwandeln.

Aufrichtig zu sagen, ist es der größte Dienst, den ich glaube meinem Vaterlande leisten zu können, wenn ich fortfahre, in meinem biographischen Versuche die Umwandlungen der sittlichen, ästhetischen, philosophischen Cultur, insofern ich Zeuge davon gewesen, mit Billigkeit und Heiterkeit darzustellen, und zu zeigen, wie immer eine Folgezeit die vorhergehende zu verdrängen und aufzuheben suchte, anstatt ihr für Anregung, Mittheilung und Überlieferung zu danken. Genauer als sonst werde ich die Tagesschriften, sie mögen sich hervorbringend oder beurtheilend beweisen, lesen oder betrachten, und es sollte mir sehr angenehm seyn, wenn diese Barometer des Zeitgeistes eine bessere Witterung andeuten, als ich mir erwarte.

Leben Sie recht wohl, und wachsen einer glücklichen Zeit und einer vollendeten Bildung entgegen, wie sie der jüngere Deutsche jetzt mehr als jemals hoffen kann.

Keinen höheren Wunsch wüßte hinzuzufügen.

Goethe. [153]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1814. An Franz Bernhard von Bucholtz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-844C-E