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An Charlotte von Stein

Lauterbrunnen den 9. Oktbr. 1779.

Abends 1/2 7 Uhr.

Wir sind 1/2 5 wirklich hier in der Gegend angelangt und alles was ich bisher gewünscht, wir haben den Staubbach bei gutem Wetter zum erstenmal gesehen die Wolken der Obern Luft waren gebrochen und der blaue Himmel schien durch. An den Felswänden hielten Wolken, selbst das Haupt wo der Staubbach herunter kommt, war leicht bedekt. Es ist ein sehr erhabener Gegenstand. Und es ist vor ihm, wie bei allem grossen, so lang es Bild ist so weis man doch nicht recht was man will. Es lässt sich von ihm kein Bild machen, die Sie von ihm gesehen haben sehen sich mehr oder weniger ähnlich; [74] aber wenn man drunter ist, wo man weder mehr Bilden noch beschreiben kann, dann ist man erst auf dem rechten Flek. Jezo sind die Wolken herein ins Thal gezogen und deken alle die heitern Gründe. Auf der rechten Seite steht die hohe Wand noch hervor über die der Staubbach herab kommt. Es wird Nacht, wir sind beim Pfarrer in Lauterbrun eingekehrt, es ist ein aus ein ander liegendes Dorf, genannt, wie die Leute sagen weil lauter Brunnen nichts als Brunnen in dieser Gegend von den Felsen herunter kommen.

Über das Münsterthal wodurch wir gekommen sind hab ich ein eigen Papier geschrieben die Gegenstände darinn sind sehr erhaben aber proportionirter zu dem Begriff der menschlichen Seele als wie die gegen die wir näher rüken, gegen das übergrosse ist und bleibt man zu klein. Ich werde mich entschliessen müssen Ihnen rükwärts ein Tagbuch so leicht und leidlich als möglich von unserer Reise zu machen. Heute Sonnabend den 9ten gingen wir früh von Thun ab zu Schiff über den See. Die Nebel fielen wann wir in unserer Landssprache sagen es regnete, die Gipfel der Berge waren eingehüllt wir sassen in einem bedekten Schiff ich las den Gesang aus Bodmers Homer. Gegen zwölfe kamen wir in Untersewen an assen eine grosse Forelle, examinirten einen Augenarzt wovon ich den Zettel hier beischliesse und fuhren auf einem engen Leiterwägelgen zusammen gepackt ab gingen aber bald zu Fusse durch das Thal bis nach Lauterbrunn.[75] NB. man sagt auch hier zu Land auf dem Wagen reiten.

Den 8ten konnte ich in Bern früh mit dem Perükenmacher nicht fertig werden, suchte Leute auf die ich nicht fand und durchstrich bei der Gelegenheit die Stadt, sie ist die schönste die wir gesehen haben in Bürgerlicher Gleichheit eins wie das andere gebaut, all aus einem graulichen weichen Sandstein, die egalitaet und Reinlichkeit drinne thut einem sehr wohl, besonders da man fühlt, dass nichts leere Decoration oder Durchschnitt des Despotismus ist, die Gebäude die der Stand Bern selbst aufführt sind gros und kostbar doch haben sie keinen Anschein von Pracht der eins vor dem andern in die Augen würfe, wir nahmen ein Frühstük statt des Mittagsessens und ritten drauf nach Thun, wo wir bei zeiten anlangten um noch die schöne Aussicht vom Kirchhof auf den See zu sehen und an der Aar bis gegen den See zu spazieren Wir machten mit einem Bürger Bekanntschaft, der uns geleitete, drauf unser Schiffer war und künftig unter Geleitsman seyn wird.

Den 7. brachen wir von Annet auf, es rieselte stark, wir mussten durch den Moor und Moos was man bei uns durch Rieder nennen möchte, wodurch uns der Wirth begleitete, wo wir doch oft unsere Pferde führen mussten aus Furcht nicht einzusinken. Wir kamen tüchtig im Regen nach Murten ritten aufs Beinhaus und ich nahm ein Stükgen Hinterschädel [76] von den Burgundern mit, in Murten assen wir zu Mittag und lassen aus einem treflich geschriebenen Buche die Geschichte der Murten Schlacht. Es ist äusserst rührend, von einem Zeugen und Mitstreiter die Thaten dieser Zeit erzählen zu hören. Das Wetter klärte sich auf als wir von Murten wegritten und wir zogen durch die schöne Landschaft nach Bern wo alles gar glüklich abgetheilt und genuzt ist und frölich und nahrhaft und reich aussieht.

Den 6ten hatten wir einen etwas verworrnen Tag wurden aber doch von einem guten Geist irre geführt. Früh ritten wir von Bielaus am See weg über Erlach nach Annet von da wollt ich nach La Sauge allein der Weeg war wiedrig und wir verirrten uns im Ried, wir waren gezwungen auf die Hauptstrasse zurük zu gehen und genöthigt von Ort zu Ort wo theils keine Wirthshäusser waren theils die Leute uns nicht aufnehmen konnten bis nach St. Blaise zu gehen das zu oberst des Neustädter Sees liegt, es war eben ein schöner Mittagsblik der Sonne aus dem Gewölk als wir ankamen, wir freuten uns des und genossens recht sehr assen zu Mittag, sezten uns wieder an den See und ritten endlich auf Annet wieder zurük, wo wir in einem leidlichen Wirthshaus über Nacht blieben.

Den 5. fuhren wir früh auf dem Rathsschiffe von Bielaus nach der Insel des Bieler Sees wohin Rousseau sich begab als er von Geneve weggetrieben[77] wurde. Die Insel gehört dem Hospital zu Bern und der Schaffner und seine Frau die die Wirthschaft selbst führen sind noch eben dieselben die Rousseau bewirtheten.

Gute Nacht für heute. es ist wenigstens etwas und mehr als ich von Ihnen die Zeit gehört habe.

G.


Thun d. 14. Oktb. Abends 7. wir sind glücklich wieder hier angekommen. Diese vier Tage das schönste Wetter, heut und gestern keine Wolcke am Himmel, und die merckwürdigsten Gegenden ganz rein in dem himmlischen Lichte genossen. Es fällt schweer nach allem diesem zu schreiben, ich will nachher aus meinem Bleystifft Gekrizzel Phillippen wieder dicktiren.

Die merckwürdige Tour durch die Bernischen Glätscher ist geendigt wir haben leicht vorübergehend die Blüte abgeschöpft an einigen Orten hätt ich mit dem Bogen noch einmal schlagen können aber es ist auch so gut. Wär ich allein gewesen ich wäre höher und tiefer gegangen aber mit dem Herzog muss ich thun was mäsig ist. Doch könnt ich uns mehr erlauben wenn er die böse Art nicht hätte den Speck zu spicken, und wenn man auf dem Gipfel des Bergs mit Müh und Gefahr ist, noch ein Stiegelgen ohne Zweck und Noth mit Müh und Gefahr suchte. Ich bin auch einigemal unmutig in mir drüber geworden, dass ich heut Nacht geträumt habe ich hätte mich drüber mit[78] ihm überworfen, wäre von ihm gegangen, und hätte die Leute die er mir nachschickte mit allerley Listen hintergangen. Wenn ich aber wieder sehe, wie iedem der Pfahl in's Fleisch geben ist den er zu schleppen hat, und wie er sonst von dieser Reise wahren Nuzzen hat, ist alles wieder weg. Er hat gar eine gute Art von Aufpassen, Theilnehmen, und Neugier, beschämt mich offt wenn er da anhaltend oder bringend ist, etwas zu sehen oder zu erfahren, wenn ich offt am Flecke vergessen oder gleichgültig bin.

Es soll recht gut werden denck ich und bisher hat uns das Glück gar unerhört begleitet. Kein Gedancke, Keine Beschreibung noch Erinnerung reicht an die Schönheit und Grösse der Gegenstände, und ihre Lieblichkeit in solchen Lichtern Tageszeiten und Standpunckten.

Wedel hat des Tags hundert tolle Einfälle, und wenn ihn nicht manchmal der Schwindel ankäme und ihn auf Augenblicke böser Laune machte, wäre kein Gesellschaffter über ihn.

Von dem Gesange der Geister hab ich noch wundersame Strophen gehört, kann mich aber kaum beyliegender erinnern. Schreiben Sie doch sie für Knebeln ab, mit einem Grus von mir. Ich habe offt an ihn gedacht.


Nun geht die Erzählung wieder ordentlich von Lauterbrunn an. Wie wir von Emmedingen [79] nach der Bieler Insel gekommen sind. Wird wohl Lücke bleiben.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1779. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8565-E