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An Georg August Christian Kestner

Je länger ich aufschiebe, theuerster Mann, Ihnen zu schreiben, desto schwerer wird es mir und es möchte mir zuletzt ganz unmöglichen werden, wenn ich mich nicht entschlösse geradehin auszusprechen, wie es mir eben zu Sinne kömmt. Es bleibt eine schwere Aufgabe, nach bedeutenden Unfällen sich wieder zu fassen und zu sammeln, da man denn erst später zur Besinnung kommt, wem man dabey eigentlich den größten Dank schuldig ist. Es tritt dann zugleich die Überzeugung ein, daß Worte nicht hinreichen denselben abzustatten.

Wenn ich mich zu Ihnen nahc Rom denke, so muß ich mir den bänglich zweifelhaften Zustand wieder vor die Seele führen, in welchem ich die acht vergangenen Monate verlebte. Mein Sohn reiste um zu genesen, seine ersten Briefe von jenseits waren höchst tröstlich und erfreulich, er hatte Mailand, die Lombardei, ihre fruchtreichen Felder, ihre bewundernswürdigen Seen mit einem tüchtigen frohen Antheil bereist und beschaut, war ebnermaßen bis Venedig und nach Mailand wieder zurückgekommen. Sein ununterbrochenes Tagebuch zeugte von einem offenen, ungetrübten Blick für Natur und Kunst; er war behaglich bey Anwendung und Erweiterung seiner früheren mehrfachen Kenntnisse. Eben so setzte sich's fort bis Genua, wo [53] er mit einem alten Freunde vergnüglich zusammentraf und sich darauf von seinem bisherigen Begleiter, dem Doctor Eckermann, welcher nach Deutschland zurückging, trennte.

Der Bruch des Schlüsselbeins, der zwischen gedachtem Ort und Spezia sich leider ereignete, hielt ihn hier an vier Wochen fest; aber auch dieses Unheil, so wie eine sich dazu gesellende Hautkrankheit, beides in der großen Hitze sehr beschwerlich, übertrug er mit mönnlich gutem Humor; seine Tagebücher blieben vollständig, und er verließ gedachten Ort nicht eher, bis er sich in der Umgegend vollkommen umgesehen und sogar das Gebäude der Quarantaine besucht hatte. Einen kurzen Aufenthalt in Carrara, einen längern in Florenz benutzte er musterhaft, durchaus mit folgerechter Aufmerksamkeit; sein Tagebuch könnte einem ähnlich Gesinnten Wegweiser dienen.

Hierauf war er, von Livorno mit dem Dampfschiffe abreisend, nach ausgestandenem bedenklichen Sturm, an einem Festtage in Neapel gelandet. Hier fand er den wackern Künstler, Herrn Zahn, der bey seinem Aufenthalt in Deutschland zu uns das beste Verhältniß gefunden hatte, ihm freundlichst entgegen kam und sich nun als erwünschester Führer und Beystand vollkommen legitimirte.

Seine Briefe von dorther wollten mir jedoch, wie ich gestehen muß, nicht recht gefallen; sie deuteten auf eine gewisse Hast, auf eine krankhafte Exaltation, wenn [54] er sich auch in Absicht auf sorgfältiges Bemerken und Niederschreiben ziemlich gleich blieb. In Pompeji ward er einheimlich; seine Gefühle, Bemerkungen, Handlungen in jener Stadt sind heiter, ja lustig-lebendig.

Eine Schnellfahrt nach Rom konnte die schon sehr aufgeregte Natur nicht besänftigen.

Leider schließen sich Ihre freundschaftliche Behandlungen, Ihre Fördernisse, Ihre Sorgfalt, Ihre Beyhülfe, Ihr Schmerz an meine Brieffschaften schmerzlich an, und ich fahre nicht weiter fort als um zu sagen, was sich von selbst versteht, daß, nachdem ich die gehegte Hoffnung verloren, ihn bey seiner Rückkehr gesund und munter zu begrüßen, ihm seinen Theil an gemeinsamen Geschäften, die Führung des Haushalts, die Unterstützung siner Gattin, die Erziehung seiner Kinder für die Zukunft zu übergeben, dieses alles nunmehr lastend auf mir zurückbleibt, und ich täglich und stündlich mühsam veranstalten muß, was ich, im Ganzen, jüngeren Thätigkeiten zu übertragen gedachte.

Fügen Sie hinzu, daß ich an meinen dichterischen und wissenschaftlichen und sonstigen geistigen Arbeiten ncoh gar manches zu ergänzen, zu ordnen habe, manches redigiren und zurechtstellen, für die Zukunft der Meinigen sorgen muß, auch noch gegen die gesellige Außenwelt mich gewissen Verhältnissen nicht ganz entziehen kann, so werden Sie sich überzeugen, daß ich ein operoses Leben führe, als meinen hohen[55] Jahren zuzumuthen billig ist. Da uns Erdebewohnern aber Kampf und Strauß bis an's Ende zu bestehen nicht erlassen wird, so überfiel mich am Schluß des vorigen Monats sogar eine bedenkliche Krankheit, von der ich mich schnellmöglichst zu erholen das Glück hatte, und nun in dem Falle bin, am Ende meiner tage noch als wie zu einem neuen Anfang mich einzurichten.

Hier muß ich schließen, indem ich nochmals versichere, daß ich alles dasjenige, was von römischen Gönnern und Freunden meinem Sohn in den wenigen Tagen Ergetzliches und Hülfreiches geschehen, so wie das, was nach seinem gründlichen Werthe vollkommen anerkenne. Denen Herren v. Bunsen, Platner, Riccardi, Thorwaldsen und allen und jeden meine dankbarsten Empfehlungen; den guten und geschickten Preller mit eingeschlossen, der wie ich höre, auch von einer Krankheit angefallen worden. haben Sie die Güte, einem so schönen Talente mit einsichtigem Rath beyzustehen, welchen zu beherzigen freylich unsre Jugend selten ein Ohr hat.

In der Überzeugung und dem Bewußtseyn, daß Herr Geh. Rath v. Müller alles dasjenige, was zu beobachten und zu erstatten gewesen, gefällig werde besorgt haben, fühle ich mich in etwas beruhigt, indem ich meiner traurigen Pflicht, wenn auch nur einigermaßen, genug gethan zu haben hoffen darf.

[56] Mich aber und abermals dankbar angehörig bekennend.

Eben als ich abschließe, erhalte ich ein Exemplar des 1. Bandes eines längst erwarteten Werkes: Beschreibung der Stadt Rom, durch Vermittelung derJ. G. Cottaschen Buchhandlung in Stuttgart, jedoch, wie zugleich gemeldet wird, in Auftrag der trefflichen Herren Verfasser. Haben Sie, theuerster Mann, die Güte, meinen verpflichteten Dank dafür auszusprechen, mit der Versicherung: daß ich mir Leben und Kräfte wünsche, um aus dieser sorgfältigen Arbeit auch für mich fernerhin Nutzen und Belehrung ziehen zu können.

Solche ernste Studien und gründliche Forschungen heißen mich auf ein vergangenes Leben zurück sehen, wo ich auf derselben Stelle, mit gleichem Eifer, mich bemühte und manches von dem in Ahnunh vorzuschauen glaubte, was gegenwärtig, durch die Bemühungen vieler Jahre, in's klarste Licht gestellt wird, wodurch ich denn auch, obgleich später, zu einer deutlichern und vollständigern Ansicht zu gelangen das Glück hoffe.

Da noch einiger Raum ist, lege die Zeichnung eines Lampen-Fragments bey, welches vor kurzem zu mir gekommen ist. Leider verstand der zeichner das nackte nicht, wie, besonders an der Hüfte, ein Kenner leicht bemerken und verbessern wird. Interessant war mir, und wird vielleicht auch den dortigen Kunstfreunden [57] seyn, die Vergleichung dieses Gegenstandes mit der 8. Tafel des 1. Bandes der Lucernae fictiles Musei Passerii. Offenbar sind beides geistreiche Variationen desselben plastischen Gedankens. In genanntem Werke sind die Genien in Bewegung, und der mit der Fackel fortschwebende scheint das Erwachen anzudeuten, da auf meinem Fragmente der Genius sowohl als die Nymphe im tiefen Schlafe begriffen sind.

Geht es mir doch wie dem cananäischen Weiblein, welche es nicht erniedrigend findet, sich von Brosamen zu nähren, die von einem reichen Gastmahl abfallen. Möge Ihnen und Ihren edlen Freunden alles Glück beschert seyn, um die Fülle, mit der Sie gesegnet sind, auf das behaglichste zu genießen.

treu geeignet

J. W. v. Goethe.

Weimar den 27. December 1830.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1830. An Georg August Christian Kestner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8570-3