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An Charlotte von Stein

Ihre erste Weimarer Worte erhalt ich hier und freue mich Sie wieder meine Nachbaarinn zu wissen, und dass Ihnen der Schreibtisch Vergnügen macht. Glauben Sie mir ich halt ihn auch für kostbaar und muss, denn seit Anfang dieses Jahrs hab ich mich beschäfftigt ihn zusammenzutreiben, alles selbst ausgesucht, aufgesucht, davon viel Aneckdoten zu erzählen wären, bin offt vergnügt von Ihnen weg zum Tischer gegangen weil etwas im Werck war das Sie freuen sollte, das nicht auf der Messe erkauft, das von seinem ersten Entwurf meine Sorge, meine Puppe, meine Unterhaltung war. Wenn Freundschafft sich bezahlen lässt; so ist dünckt mich das die einzige von Gott und Menschen geliebte Art. Also meine beste – Verzeihen Sie mir diese Rodomondate! Ich werde verleitet Sie auf den eigentlichen Preis des Dings zu weisen, da Sie nur einen Augenblick an einen andern dencken konnten.

Wir sind in und mit Lavatern glücklich, es ist uns allen eine Cur, um einen Menschen zu seyn, der in der Häuslichkeit der Liebe lebt und strebt, der an dem was er würckt Genuss im Würcken hat, und seine Freunde mit unglaublicher Aufmercksamkeit, trägt, nährt, leitet und erfreut. Wie gern mögt ich ein Vierteljahr neben ihm zubringen, freylich nicht müsig [149] wie iezt. Etwas zu arbeiten haben, und Abends wieder zusammen lauffen. Die Wahrheit ist einem doch immer neu, und wenn man wieder einmal so einen ganz wahren Menschen sieht meynt man, man käme erst auf die Welt. Aber auch ists im moralischen wie mit einer Brunnen Cur alle Übel im Menschen tiefe und flache kommen in Bewegung, und das ganze Eingeweide arbeitet durch einander. Erst hier geht mir recht klar auf in was für einem sittlichen Todt wir gewöhnlich zusammen leben, und woher das Eintrocknen und Einfrieren eines Herzens kommt das in sich nie dürr, und nie kalt ist. Gebe Gott dass unter mehr grosen Vortheilen auch dieser uns nach Hause begleite, dass wir unsre Seelen offen behalten, und wir die guten Seelen auch zu öffnen vermögen. Könnt ich euch mahlen wie leer die Welt ist, man würde sich an einander klammern und nicht vun einander lassen. Indess bin ich auch schon wieder bereit dass uns der Sirocko von Unzufriedenheit, Widerwille Undanck, Lässigkeit und Prätension entgegen dampfe.

Adieu meine Beste. Noch hab ich mein unleserliches Tagbuch an Sie von Martinach bis hierher nicht abdicktiren können. Wills Gott heut Abend oder morgen. Adieu. Grüsen Sie alles. Zürch d. 30. Nov. 79.

G.


Übermorgen gehn wir von hier ab, und haben noch den Costnizer See, und den Rheinfall vor uns.
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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1779. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-85AA-3