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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Donnerstag den 26. Juni fuhr ich von Weimar ab und nach einer sorgfältig-bequemen Reise gelangte ich Sonntag den 29. nach Eger und, nachdem ich meine Equipage vorausgeschickt, Mittwoch den 2. Juli nach Marienbad. Ich sage dieß umständlich um auszudrücken, daß ich die ganze Fahrt als eine mannichfaltig-gemüthliche Spazierreise zu behandeln trachtete. Kurz vor mir langte der Großherzog an; wir wohnen in verschiedenen Häusern auf Einer Terasse, wie ich's nennen will, die meist den ganzen wunderbaren Ort von oben herunter beschaut. Das Ganze, das aus großen und ansehlichen Häusern besteht, hat etwas Wöhnlich-Freundliches, ich möchte wo anders nicht lieber wohnen. Auf den Großherzog thut es dieselbige Wirkung.

In allem sind gegen vierhundert Menschen hier, welche sämmtliche bedeutende Wohnungen einnehmen.

Lassen Sie das Drittheil davon zur höhern Gesellschaft [120] gehören; so sehen Sie, daß die gebildete Welt einen mäßig-angenehmen Cirkel macht.

Einer von meinen Begleitenden schreibt Wind, Wolken und Wetter sorgfältig auf: denn leider hat mich auch dieses Luftgetümmelwesen gewaltig ergriffen, und da muß man denn der lieben Erfahrung aufpassen und sehen, ob sie so höflich ist zu handeln, wie man wollte.

Ein anderer regsamer, leidenschaftlicher Bergfreund hat schon die Felsen rings umher zusammengepocht. Wir ließen vor'm Jahr eine vollständige Sammlung hier, machen nun Duplicate und Triplicate, finden wenig Neues, doch gibt es zu guten Gedanken Anlaß, die in der Geognosie und Geologie nöthiger sind als irgend wo, weil sich mancher hier mitzureden vermißt, dem die Natur weder Anschauungs-, noch Fassungs-, noch Ordnungsgabe verliehen hat.

Die Chronik meines Lebens, Zurechtstellung der Tagebücher und sonstiger Notizen hab ich auch schon um ein paar Jahre von hinten hervorgefördert, und so denke wird das frischere Gedächtniß die Einzelnheiten früherer Jahre wieder nach und nach beleben und mit sich aufrollen.

Kunst und Alterthum IV, 2 haben Sie erhalten. Den letzten Bogen vom wissenschaftlichen Hefte, sogar den Umschlag, habe noch vor dem Einsteigen revidirt. Ich wünschte, Sie erhielten das auch bald, denn es ist manches darin niedergelegt, was ich höchlich schätze, [121] was mir am Herzen liegt, und das ich an das Ihrige lege.

Die jenaischen Blätter haben mir einen größeren Dienst erzeigt, als denkbar ist, denn wie hätte ich zu solcher Erinnerung erst Gabe, dann Lust gefunden? Woher Fähigkeit und Trieb mich selbst zu reassummiren? In meinen Jahren muß man vorwärts gehen, aufwärts bauen und nicht mehr nach dem Grundstein zurückblicken, auf welchen man sich gut fundirt zu haben glaubt.

Es schweben mir noch wunderliche Dinge vor, davon wäre denn bey schicklichem Zusammentreffen löbliche Mittheilung zu, geben.

Wie lang mein hiesiger Aufenthalt dauern mag, seh ich nicht voraus; meine Absicht wäre bis Anfangs Augusts hier zu verbleiben, alsdann von Eger auf Gebirg und Land und mancherlei menschliche Zustände unmittelbar zu schauen. Denn mir scheint nichts nöthiger als äußere sinnliche Anregung, damit ich mich nicht in's Abstracte oder wohl gar Absolute verliere.

In der Hälfte September kehr ich alsdann wieder zu Hause; doch vernehmen Sie von Zeit zu Zeit den Verlauf meines Lebens; möge der Ihrige zu gedachter Epoche sich nähern und wir uns wieder unmittelbar berühren. Es gibt jetzo gar zu vieles, was man weder schreiben kann noch mag, was man wohl könnte und versteht, aber auch gern die Bestätigung von einem Freunde vernehmen möchte; und betet ich es [122] von vielen Seiten, so ist es unerläßlich, daß man sich spreche.

Man brachte mir die lateinische Übersetzung von Herrmann und Dorothea, es ward mir ganz sonderbar dabey; ich hatte dieses Lieblingsgedicht viele Jahre nicht gesehen, und nun erblickt ich es wie im Spiegel, der, wie wir aus Erfahrung und neuerlich aus dem Entoptischen wissen, eine eigene magische Kraft auszuüben die Fähigkeit hat. Hier sah ich nun mein Sinnen und Dichten, in einer viel gebildeteren Sprache, identisch und verändert, wobey mir vorzüglich auffiel, daß die römische nach dem Begriff strebt und, was oft im Deutschen sich unschuldig verschleyert, zu einer Art von Sentenz wird, die, wenn sie sich auch vom Gefühl entfernt, dem Geiste doch wohlthut. Ich möchte übrigens nicht weiter darüber nachdenken, denn eine solche Vergleichung führt zu tief in den Text.

Verzeihung! Sie sehen aus diesem Blatt, daß ich mir Sie schon als gegenwärtig vorstelle, wo man es nicht gar zu genau nimmt.

Tausend Lebewohl!

Marienbad den 8. Juli 1823.

G

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-85AE-C