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An Carl Ludwig von Knebel

Um einen Schritt nach unserm löblichen Vorsatz weiter zu thun, erkläre mich über eine Stelle meines vorigen Briefes etwas umständlicher und sage: dieAnschauung könne eine physiologische und eine pathologische seyn. Erstere macht den Naturforscher, letztere den Arzt; daß Lucrez zu beiden befähigt gewesen, ist wohl kein Zweifel; schön wäre es daher, wenn man Stellen andeutete, wo derselbe die Natur in ihrer ganzen Fülle und Gesundheit, sodann aber, wo er sie als krank und mangelhaft gleichfalls erkennt und ausspricht.

Zur Anschauung gesellt sich die Einbildungskraft, diese ist zuerst nachbildend, die Gegenstände nur wiederholend. Sodann ist sie productiv, indem [136] sie das Angefaßte belebt, entwickelt, erweitert, verwandelt.

Ferner können wir noch eine umsichtige Einbildungskraft annehmen, die sich bey'm Vortrag umherschaut, Gleiches und Ähnliches erfaßt, um das Ausgesprochene zu bewähren.

Hier zeigt sich nun das Wünschenswerthe der Analogie, die den Geist auf viele bezügliche Puncte versetzt, damit seine Thätigkeit alles das Zusammengehörige, das Zusammenstimmende wieder vereinige.

Unmittelbar daraus erzeugen sich die Gleichnisse, welche desto mehr Werth haben, je mehr sie sich dem Gegenstande nähern, zu dessen Erleuchtung sie herbeygerufen worden. Die vortrefflichsten aber sind: welche den Gegenstand völlig decken und identisch mit ihm zu werden scheinen.

Von allen diesen Geistesoperationen finden sich herrliche Beyspiele im Lucrez, und ich wünsche unter jeder Rubrik die vorzüglichsten aufgeführt zu sehen, welches dir, da du ihn ganz inne hast, nicht schwer fallen dürfte. Ich werde indeß, da ich mich mit Original und Übersetzung beschäftige, nicht verfehlen, was mir für diese und die folgenden Puncte wichtig scheint, versweis' anzumerken.

Betrachtungswerth findet sich gerade hiezu im sechsten Buch die wichtige Stelle von Vers 95 bis 599. Sie ist sehr ausgearbeitet, und würde davon manches zu brauchen seyn; er selbst hat sie für so[137] wichtig gehalten, daß er ihr einen Anruf an die Muse vorausschickt.

Laß dich nicht verdrießen, den Dichter auf solche Weise gleichsam zu zerstückeln; ich kenne nur diesen Weg, um aus der allgemeinen in die besondere Bewunderung zu gelangen. Haben wir dieß vorausgeschickt, so können wir andere Verdienste dieses außerordentlichen Mannes gleichfalls hervorheben.

Ich habe nun die Aushängebogen geheftet vor mir, sie nehmen sich sehr gut aus, und ich finde jetzt, bey mehrerer Bequemlichkeit, deine Übersetzung eines so schwierigen Werkes, das man stellenweis' abstrus nennen könnte, klar, eingänglich und fließend.

treulich

Weimar den 21. Februar 1821.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1821. An Carl Ludwig von Knebel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8674-4