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An Carl Friedrich Zelter

Zuvörderst will ich für deine Schilderung Paganini's alleschönstes gedankt haben. Vergleich ich sie mit dem, was in der Berliner Zeitung zu lesen ist, so kommt mir durch Verstand und Einbildungskraft wenigstens ein begreiflich scheinendes Bild zu Stande; und was man eigentlich hören müßte, wird dem höhern Sinn gewissermaßen anschaulich. Ich gönne ihm einen solchen Hörer und dir einen solchen Virtuosen.

Sodann sollst du gleichfalls vielen Dank haben für die Entwickelung der wichtigen musikalischen [272] Grundsätze in deinem letzten. Entschließe dich von Zeit zu Zeit zu dergleichen, du sammelst dir selbst einen Schatz in meinen Heften. Ich freue mich meiner Tabelle als eines zwar nackten, aber wohlgegliederten Skeletts, welches der echte Künstler allein mit Fleisch und Haut überkleiden, ihm Eingeweide geben und in's Leben praktisch und denkend einführen mag. Ich sehe dadurch auf eine wundersame Weise in eine Region hinüber, in welcher ich nicht einmal genießen, geschweige genießend denken sollte.

Auch das ablehnende Brieflein laß ja nicht ohne Gesellen! Dergleichen Zudringlichkeiten sind durch aus nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt rege. Die jetzige Zeit ist eigentlich enkomiastisch, sie will etwas vorstellen, indem sie das Vergangene feyert: daher die Monumente, Feste, die säcularen Lobreden und das ewige ergo bibamus, weil es einmal tüchtige Menschen gegeben hat.

Die werthe alte Dame, welche meine Farbenlehre wie eine Art Bibel behandelt, mußte mich sehr freuen. Das Büchlein enthält freylich vieles, was man sich zueignen kann, wenn man auch das Viele, was uns nicht angeht, auf sich beruhen läßt. Ein gar verständiger Aufsatz über das Colorit, in Bezug auf diese Farbenlehre, steht in Januar des Morgenblatts dieses Jahrs. Es ist ein praktischer Künstler, welchem das ihm Nutzbare lebendig geworden ist; er konnte noch etwas weiter gehen; ich nehme zu meiner Beruhigung [273] in diesem Sinne die Sache selbst noch einmal vor. Wenn eine Haupt- und Grundmaxime nur erst einmal eingreift, so kann man schon nachrücken. Glücklicherweise widersteht dem Künstler nichts in dem Meinigen, und was er mir zugibt, kann er gleich brauchen. Daß aber ein Mathematiker, aus dem Hexengewirre seiner Formeln heraus, zur Anschauung der Natur käme und Sinn und Verstand, unabhängig, wie ein gesunder Mensch brauchte, werd ich wohl nicht erleben. Es wird allein dadurch möglich, daß ein junger frischer Mann, ehe er sich in jene Labyrinthe einläßt, den Faden aus den Händen der liebenswürdigen Natur empfange, der wahren Ariadne, die uns allein beseligt, welcher wir zeitlebens nicht untreu werden können.

Die Medaille der Facius ist gut genug gerathen. Das: Loos direxit ist nicht vergebens hinzugefügt. Ich hoffe, man wird von hier aus diesem Manne etwas Freundliches erweisen, um ihn für das Mädchen noch weiter zu interessiren. Ihr Aufenthalt in Berlin ist ihr zu gönnen: hier, wo sie keine Technik im Rücken hat, würde sie geradezu nichts vermögen. Dort sollte sie sich doch schon selbst etwas verdienen und unter hiesigem Zuschuß in Berlin sich fortwährend aufhalten können; zuletzt fände sich ein Mann, wo es dann an naiven Interjectionen nicht fehlen würde.

Soviel für heute! Mit den besten Wünschen und Grüßen.

treu verharrend

Weimar den 17. May 1829.

Goethe. [274]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1829. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-86E1-C