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An Carl Friedrich Zelter

Da deine freundlich Stimme mir bis in diese Wälder folgt, entgegne sogleich mit heitern Worten, um zu vermelden, daß es mir besonders wohl geht; [133] denn vom Hause, nach einem so harten Winter, nach einer gewaltsamen Krankheit und einsam thätigen Monaten beynahe lebensunfähig wegzugehen, war nicht zu verwundern. Reise, neue Gegenstände, Veränderung aller Art, sogar auch Unbequemlichkeit, neue An- und Eingewöhnung riefen mich, eigentlich wieder in's Leben. Hier finde ich Berg und Berggenossen leidenschaftlich entzündet wieder der Funke, den sie von mir aufgefangen, lodert jetzt in ihnen auf den Grad, daß er mich selbst erleuchtet.

So thun auf manche frühere Menschen-Verhältnisse gar wohl, indem sie Zeuge sind, daß man nach einer Jahres-Nacht Neigung und Wohlwollen nicht verschlafen hat.

Das Locale im Ganzen, besonders auch wo ich wohne, ist der Geselligkeit günstig genug; es ist eine Terasse von drey ansehnlichen Häusern, flankirt von zwey gleich großen Gebäuden; in jeder Stadt würden diese Baulichkeiten für etwas gelten. Der Großherzog wohnt in der Mitte, und glücklicherweise ist die ganze Nachbarschaft von schönen Frauen und verständigen Männern eingenommen. Ältere Verhältnisse verknüpften sich mit neuen, und ein vergangenes Leben läßt an ein gegenwärtiges glauben.

Wie ich mit der Erdkunde mich vielleicht mehr als billig beschäftigt habe, so fange ich jetzt auch mit den atmosphärischen Reichen an; und wär es nur um zu erfahren, wie man denkt und denken kann, so [134] ist das schon ein Vorgewinn; man weiß recht gut, daß der Mensch alles, Gott selbst und das Göttliche an sich heranziehen, sich zueignen muß. Aber auch dieses Heranziehen hat seine Grade, es gibt ein hohes und ein gemeines.

Was ich aber eigentlich fördere, ist die Redaction meiner Lebenschronik. Nach mancherlei Versuchungen hab ich endlich von der neusten Zeit angefangen, da ich mich denn bey frischem Gedächtniß nicht lange um Stoff zu bemühen brauche; endlich merke, so rückwärts arbeitend, wie das Bekannte, Gegenwärtige das Verschwundene, das Verschollene wieder zurückruft.

In diesem Sinne muß es mir sehr bedeutend seyn, wenn ferne Freunde das, was von mir in Druck ausgeht, als an sie gerichtet ansehn; denn ich sehe die Zeit ganz nahe wo ich mich direct schriftlich nicht mehr werde vernehmen lassen. Daß ihr mein letztes Heft gut aufgenommen, ist mir deshalb sehr tröstlich; in jedem solchen Hefte ist mehr Leben niedergelegt, als man ihm ansieht. Leide liest niemand heut zu Tage, als nur das Blatt los zu werden; darum soll der Schreibende immer tüchtiger werden, um der Nachwelt ein Zeugniß zu hinterlassen, daß er nicht umsonst gestrebt hat.

Wenn du diese Briefblätter einstimmig findest mit den ernstesten Fichtengebirgen, auf hohem Standpunct, so gedenke dabey meiner Umgebung, wo eben Gewitter weit ausgedehnt von den Bergen bis hinab in's Land [135] blitzen, donnern und abregnen. Alle unsere nachbarliche Welt ist auswärts und ich auf diesem wunderbaren Punct so gut wie allein.

Nun laß mich aber in dein weit- und breites, herrliches Berlin hinabsteigen und dir Glück wünschen, daß deine Wallfahrt vollbracht ist. Setze ich mich an deine Stelle und gedenke an ein Umziehn, so würd ich wahrscheinlich in einem viel engern Raum mich auch behaglich finden, wie es mir ja schon zu Hause, besonders aber auf der Reise und in Bädern gar wohl gerathen kann.

Mich freut es, daß du mit unserm Griesgram näher zu leben kamst; im Grunde ist es ihm denn doch um Behaglichkeit zu thun, nur daß er nicht wußte, wo sie zu finden; grüß ihn schönstens, ich habe gute Zeit mit ihm verlebt; nur ist meinem Elemente das Widersprechen fremd, und da konnten wir, mit den besten beiderseitigen Willen, niemals lange zusammen auskommen. Und so sey denn geschlossen! vielleicht vernimmst du brieflich lange nichts von mir; dem ohngeachtet denke mein, und wenn du wieder einmal eine Reise antrittst, so laß von der ersten Stunde an mich gerichtet werden das Tagebuch, was und wie du gesehen hast.

Das alles war geschrieben im Vorgefühl, daß mir von dir was besonderes Gutes kommen werde, und so kommt ein allerliebstes Kind, mir Gruß und Reim bringend, wodurch ich mich überrascht und beynahe[136] verwirrt fühlte. Also den schönsten Dank zum Schluß und die Zusage, daß vor meinem Scheiden aus Böhmen noch ein, ich hoffe, glücklich nachrichtliches Wort erfolgen soll.

treulichst

Marienbad den 24. Juli 1823.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-87E5-B