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An den Großherzog Carl Augustund die Großherzogin Louise

[Concept.]

Nach vierzehntägigem Aufenthalt in Marienbad finde ich endlich etwa soviel Stoff, um meine schuldigen Relationen einigermaßen zu beginnen.

Bis zu Ende Juni war der Ort sehr leer und das Wetter ganz trefflich; nun, da dieses zu schwanken anfängt, mehrt sich die Gesellschaft von Tag zu Tage. Unsere Tisch- und Hausgenossen waren bisher Fürst Rhevenhüller-Metsch, der von den Folgen der Leipziger Schlacht und von Weimar viel zu erzählen weiß, nach den höchsten Herrschaften, allen Personen und Verhältnissen angelegentlichst fragt, sich der Zustände und Begebenheiten genau erinnert und mir auch wohl deswegen guten Willen und Neigung zugewendet hat. Herzog Bernhard ist sein Held, dessen er ehrenhaft zu gedenken nicht ermüdet.

Auch gehört ein preußischer Major von Wartenberg zu den Unsrigen, jetzt außer Diensten, der aber die letzte ganze Reihe von politischen und militärischen Ereignissen mit durchgelebt hat, ein kluger und dabey mittheilend angenehmer Mann, zum viertenmale in Marienbad, höchst behaglich über eine fast unwahrscheinliche Wiederherstellung von körperlichen Leiden. Von neueren Gästen wüßte noch wenig.

[87] Den Prälaten habe ausführlich und vertraulich gesprochen; es ist ein merkwürdiger Mann, sowohl persönlich als in Bezug auf seine Verhältnisse; beides verdient ein besonderes Studium.

Eine geistliche Anstalt wie so ein Stift, wo man unter religiosen Formen hauptsächlich die irdischen Verhältnisse regiert und leitet, ist für uns so gut als fremd, historisch wissen wir davon, das unmittelbare Anschauen jedoch macht sich ganz besonders. Eine Subordination strenger als die militärische und dabey so geheim und still, als wenn gar nichts geschähe. Es ist, wie man wohl sieht, eine stufenweise Verkettung in sich und gegen die höhern Instanzen bis zum Monarchen hinauf, ein abgemessener Gang und Behutsamkeit überall.

Der Präfect der Pilsner Hauptschule, deren Professoren sämmtlich Stiftsherrn von Tepl sind, macht als Mitcurgast mir dir Eigenheiten dieses Zustandes bekannt; man glaubt wirklich in einer ganz fremden Welt zu leben.

Auch der jüngere Professor Zauper, der sich besonders mit dem was von mir ausging beschäftigt, war einige tage hier am Ort; ich hatte abermals viel Freude über ihn. An diesen jungen Leuten hat man freylich nur immer zu beschwichtigen, denn was von uns draußen hereinkommt, ist in solchen abgemessenen Verhältnissen erregender als billig und junge strebende Männer müssen sich die Geschicklichkeit [88] erwerben, ihre Überzeugung unter den alten Formen nach und nach einzuschwärzen.

[Marienbad den 7. Juli 1822.]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1822. An den Großherzog Carl Augustund die Großherzogin Louise. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-887A-6