27/7616.

An die Großherzogin Maria Paulowna

[Concept.]

Wenn Ew. Kaiserl. Hoheit bey einer frohen und hoffnungsreichen Epoche irgend etwas vorzulegen unternehmen sollte, so müßte es eigentlich heiter seyn, aus dem Leben gegriffen und in's Leben zurückführend. Davon erfolgt aber gerade das Gegentheil, denn das Beykommende ist vielleicht das Abgezogenste was Menschen-Geist und Sinn von sich selber hören kann.

Diese Blätter jedoch einzureichen bewegt mich nur die mir bekannt gewordene Gewißheit, daß Ew. Kaiserl. [307] Hoheit schon etwas davon vernommen und nicht abneigt seyen, einen Blick darauf zu werfen. Demohngeachtet konnte ich nicht unterlassen ein Blatt hinzuzufügen wodurch die Strenge eines allzuscharfen Denkers vielleicht gemildert und erheitert werden könnte.

Der ich mich, mit den aufrichtigsten lebhaften Wünschen für Höchst Ihro und der Hohen Ihrigen Wohl in treuster Anhänglichkeit unterzeichne.

Weimar d. 3. Jänner 1817.


[Beilage.]

Beyliegende kurze Darstellung der Kantischen Philosophie ist allerdings merkwürdig indem man daraus den Gang welchen dieser vorzügliche Dencker genommen, gar wohl erkennen mag. Es hat seine Lehre manchen Widerspruch erlitten und ist in der Folge auf eine bedeutende Weise supplirt, ja gesteigert worden. Daher gegenwärtige Blätter schätzenswerth sind, weil sie sich rein im Kreise des Königsbergischen Philosophen halten.

Eine Bemerkung jedoch, die mir bey Durchlesung aufgefallen, will ich nicht verschweigen. Im § 3 scheint mir ein Hauptmangel zu liegen, welcher im ganzen Laufe jener Philosophie merklich geworden. Hier werden als Hauptkräfte unseres Vorstellungsvermögens Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft aufgeführt, die Phantasie aber vergessen, wodurch eine unheilbare Lücke entsteht. Die Phantasie ist die [308] vierte Hauptkraft unsers geistigen Wesens, sie supplirt die Sinnlichkeit, unter der Form des Gedächtnisses, sie legt dem Verstand die Welt-Anschauung vor, unter der Form der Erfahrung sie bildet oder findet Gestalten zu den Vernunftideen und belebt also die sämmtliche Menscheneinheit, welche ohne sie in öde Untüchtigkeit versinken müßte.

Wenn nun die Phantasie ihren drey Geschwisterkräften solche Dienste leistet, so wird sie dagegen durch diese lieben Verwandten erst in's Reich der Wahrheit und Wirklichkeit eingeführt. Die Sinnlichkeit reicht ihr rein umschriebene, gewisse Gestalten, der Verstand regelt ihre productive Kraft und die Vernunft giebt ihr die völlige Sicherheit, daß sie nicht mit Traumbildern spiele, sondern auf Ideen gegründet sey.

Wiederholen wir das Gesagte in mehr als einem Bezug! – Der sogenannte Menschen-Verstand ruht auf der Sinnlichkeit; wie der reine Verstand auf sich selbst und seinen Gesetzen. Die Vernunft erhebt sich über ihn ohne sich von ihm loszureißen. Die Phantasie schwebt über der Sinnlichkeit und wird von ihr angezogen; sobald sie aber oberwärts die Vernunft gewahr wird, so schließt sie sich fest an diese höchste Leiterin. Und so sehen wir denn den Kreis unserer Zustände durchaus abgeschlossen und demohngeachtet unendlich, weil immer ein Vermögen des andern bedarf und eins dem andern nachhelfen muß.

Diese Verhältnisse lassen sich auf hundertfältige[309] Weise betrachten und aussprechen – z.B: Im gemeinen Leben treibt uns die Erfahrung auf gewisse Regeln hin, dem Verstand gelingt es zu sondern, zu vertheilen und nothdürftig zusammen zu stellen und so entsteht eine Art Methode. Nun tritt die Vernunft ein, die alles zusammenfaßt, sich über alles erhebt, nichts vernachlässigt. Dazwischen aber wird unablässig die alles durchdringende, alles ausschmückende Phantasie immer reizender, jemehr sie sich der Sinnlichkeit nähert, immer würdiger, jemehr sie sich mit so der Vernunft vereint. An jener Gränze ist die wahre Poesie zu finden, hier die echte Philosophie, die aber freylich, wenn sie in die Erscheinung tritt und Ansprüche macht von der Menge aufgenommen zu werden, gewöhnlich barock erscheint und nothwendig verkannt werden muß.

s. m. Weimar d. 31. Dezember und 2. Januar 1816 und 1817.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1816. An die Großherzogin Maria Paulowna. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-88E7-1