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An Johann Kaspar Lavater

9. August 1782

Mein Kopf ist von irdischen Sorgen für andere befasst, drum nur ein Wort, möge es das Mißverständniß nicht vermehren. Wenn ich vor dir stünde, so würden wir in einer Viertelstunde einander verständlich seyn. Wir berühren uns beyde so nah als Menschen können, dann kehren wir uns seitwärts und gehen entgegengesetzte Wege; du so sichern Schrittes als ich. Wir gelangen einsam, ohne an einander zu denken, an [35] die äußersten Gränzen unsers Daseyns; ich bin still und verschweige was mir Gott und die Natur offenbart, ich kehre mich um und sehe dich auf Einmahl das deinige gewaltig kehrend. Der Raum zwischen uns ist in dem Augenblicke wirklich, ich verliere den Lavater, in dessen Nähe ich wohl auch von dem Zusammenhang seiner Empfindungen und Ideen hingeriffen worden, den ich erkenne und liebe; ich sehe nur die scharfen Linien, die sein Flammenschwert schneidet, und es macht mir auf den Moment eine widerliche Empfindung. Es ist sehr menschlich, wenn auch nur menschlich dunkel.

Du hältst das Evangelium wie es steht für die göttlichste Wahrheit, mich würde eine vernehmliche Stimme vom Himmel nicht überzeugen, daß das Wasser brennt und das Feuer löscht, daß ein Weib ohne Mann gebiert, und daß ein Todter aufersteht; vielmehr halte ich dieses für Lästerungen gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur.

Du findest nichts schöner als das Evangelium, ich finde tausend geschriebene Blätter alter und neuer von Gott begnadigter Menschen eben so schön, und der Menschheit nützlich und unentbehrlich. Und so weiter!

Nimm nun, lieber Bruder! daß es mir in meinem Glauben so heftig Ernst ist wie dir in dem deinen, daß ich, wenn ich öffentlich zu reden hätte, für die nach meiner Überzeugung von Gott eingesetzte Aristokratie [36] mit eben dem Eifer sprechen und schreiben würde, als du für das Einreich Christi schreibst; müßte ich nicht alsdann das Gegentheil von vielem behaupten, was dein Pilatus enthält, was dein Buch uns als unwidersprechlich ausfordernd ins Gesicht sagt!

Ausschließliche Intoleranz! Verzeih mir diese harten Worte. – Wenn es nicht uns neu verwirrte, so möcht ich sagen, sie ist nicht in dir, sie ist in deinem Buche.

Lavater, der unter die Menschen tritt, der sich den Schriftstellern nähert, ist das toleranteste schonendste Wesen. Lavater als Lehrer einer ausschließenden Religion ihr mit Leib und Seele ergeben, nenn es wie du willst – du gestehst es ja selber.

Es ist hier nicht die Rede vom Ausschließen, als wenn das Andre nicht oder nichts wäre, es ist die Rede vom Hinausschließen, hinaus wo die Hündlein sind, die von des Herren Tische mit Brosamen genährt werden, für die abgefallene Blätter des Lebensbaumes, getrübtere Wellen der ewigen Ströme, Heilung und Labsal sind.

Verzeih mir, ich sage dieses ohne Bitterkeit. – und so ausschließlich ist dein Pilatus von Anfang bis zu Ende, es war deine Absicht ihn dazu zu widmen. Wieviel Ausforderungen stehen uns darinne: Wer kann? Wer darf? u.s.w. – Worauf mir im Lesen manchmahl ein gelassenes, und auch wohl ein unwilliges Ich! entfahren ist.

[37] Glaub mir ich habe über dein Buch dir viel und weitläuftig und gut spechen wollen, habe manches drüber geschrieben, und dir nichts schicken können, denn wie will ein Mensch den andern begreifen!

Laß mich also hiedurch die Härte des Wortes Intoleranz erklärend gemildert haben. Es ist unmöglich in Meynungen so verschieden zu seyn ohne sich zu stoßen. Ja ich gestehe dir, wäre ich Lehrer meiner Religion, vielleicht hättest du eher Ursach mich der Toleranz mangelnd zu schelten, als ich jetzo dich.

Hauche mich mit guten Worten an und entferne den fremden Geist. Der fremde weht von allen Enden der Welt her, und der Geist der Liebe und Freundschaft nur von einer.

Der Fürst hat mir einen Geruch deines Paradieses schon an seinen Kleidern mitgebracht. Ich schrieb dir auch noch selbigen Tag einen Brief, den du haben wirst.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1782. An Johann Kaspar Lavater. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8996-D