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An Wilhelm von Humboldt

[Concept.]

Schon durch die öffentlichen Blätter, verehrter Freund, unterrichtet, daß der Wellenschlag jener wilden Ostsee auf die Organisation des theuersten Freundes einen so glücklichen Einfluß geübt, hab ich mich höchlich erfreut und dem so oft verderblich Gewässer alle Ehre und Reverenz erwiesen. Ihr willkommenes Brieflein bestätigt diese guten Nachrichten zum allerschönsten und besten, so daß ich aus meiner Klause in die vom Schnee verschleierten Klostergärten mit Behagen hinausblicken darf, indem ich den theuersten Freund auf seinem vierthürmigen Schlosse, in geräumiger Umgebung, eine weit überwinterte Landschaft überschauend, gleichfalls mit gutem Muthe seine tiefgegründeten Arbeiten bis in's Einzelne verfolgend mir vorstellen darf.

Im Allgemeinen kann ich wohl sagen, daß das Gewahrwerden großer productiver Naturmaximen uns durchaus nöthigt, unsre Untersuchungen bis in's Allereinzelnste fortzusetzen; wie ja die letzten Verzweigungen der Arbeiten mit ihren verschmisterten Venen ganz am Ende der Fingerspitzen zusammentreffen.

Im Besondern aber darf ich wohl sagen, daß ich Ihnen oft näher geführt werde als Sie wohl denken, indem die Unterhaltung mit Riemer gar oft auf's Wort, dessen etymologische Bedeutung, Bildung und[164] Umbildung, Verwandtschaft und Fremdheit hingeführt werden.

Ihrem Herrn Bruder, für den ich keinen Beynamen finde, bin ich für einige Stunden offner freundlicher Unterhaltung höchlich dankbar geworden. Denn obgleich seine Ansicht der geologischen Gegenstände aufzunehmen und danach zu operiren meinem Cerebralsystem ganz unmöglich wird, so hab ich mit wahrem Antheil und Bewunderung gesehen wie dasjenige, wovon ich mich nicht überzeugen kann, bey ihm folgerecht zusammengehängt und mit der ungeheuren Masse seiner Kenntnisse in eins greift, wo es denn durch seinen unschätzbaren Charakter zusammengehalten wird.

Darf ich mich, mein Verehrtester, in altem Zutrauen ausdrücken, so gesteh ich gern daß in meinen hohen Jahren mir alles mehr und mehr historisch wird: ob etwas in der vergangenen Zeit, in fernen Reichen oder mir ganz nah räumlich im Augenblicke vorgeht, ist ganz eins, ja ich erscheine mir selbst immer mehr und mehr geschichtlich; und da mir meine gute Tochter Abends den Plutarch vorlies't, so komm ich mir oft lächerlich vor, wenn ich meine Biographie in dieser Art und Sinn erzählen sollte.

Verzeichen Sie mir dergleichen Äußerungen! im Alter wird man redselig und da ich dictire, kann mich diese Naturbestimmung gar wohl auch überraschen.

Von meinem Faust ist viel und wenig zu sagen; gerade zu einer günstigen Zeit fiel mir das Dictum ein:


[165] Gebt ihr euch einmal für Poeten,
So commandirt die Poesie;

und durch eine geheime psychologische Wendung, welche vielleicht näher studirt zu werden verdiente, glaube ich mich zu einer Art von Production erhoben zu haben, welche bey völligem Bewußtseyn dasjenige hervorbrachte, was ich jetzt noch selbst billige, ohne vielleicht jemals in diesem Flusse wieder schwimmen zu können, ja was Aristoteles und andere Prosaisten einer Art von Wahnsinn zuschreiben würden.

Die Schwierigkeit des Gelingens bestand darin, daß der zweyte Theil des Faust, dessen gedruckten Partien Sie vielleicht einige Aufmerksamkeit geschenkt haben, seit funfzig Jahren in seinen Zwecken und Motiven durchgedacht und fragmentarisch, wie mir eine oder die andere Situation gefiel, durchgearbeitet war, das Ganze aber lückenhaft blieb.

Nun hat der Verstand an dem zweyten Theile mehr Forderung als an dem ersten, und in diesem Sinne mußte dem vernünftigen Leser mehr entgegengearbeitet werden, wenn ihm auch an Übergängen zu suppliren genug überblieb.

Das Ausfüllen gewisser Lücken war sowohl für historische als ästhetische Stätigkeit nöthig, welches ich so lange fortsetzte, bis endlich für räthlich hielt auszurufen:


Schließet den Wäss'rungskanal, genugsam tranken die Wiesen.


[166] Und nun mußte ich mir ein Herz nehmen, das geheftete Exemplar, worin Gedrucktes und Ungedrucktes in einander geschoben sind, zu versiegeln, damit ich nicht etwa hie und da weiter auszuführen in Versuchung käme; wobey freylich bedaure, daß ich es – was der Dichter doch so gern thut – meinem werthesten Freunden nicht mittheilen kann.

Eine Übersetzung meiner Methamorphose der Pflanzen von Herrn Soret mit einem Nachricht sende ich nicht, es müßte denn seyn, daß gewisse Lebensconfessionen Ihrer Freundschaft genug thäten. Ich bin neuerer Zeit in diese Naturerscheinung mehr und mehr verstrickt worden; sie haben mich zum Fortarbeiten in meinem uranfänglichen Felde angelockt und zuletzt darin zu verharren genöthigt. Wir wollen sehen was auch da zu thun ist, und das Übrige der Folgezeit überlassen, der wir, unter uns gesagt, ein beschwerlicheres Tagewerk zuschieben als man glauben sollte.

Lassen Sie uns beiderseits von Zeit zu Zeit einen Anklang fortwährenden Daseyns nicht verwissen.

Weimar den 1. December 1831.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1831. An Wilhelm von Humboldt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-89E9-6