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An Charlotte von Stein

Sonntag d. 9. Jul. 86.

Ich bin nun fast so überreif wie die fürstliche Frucht, und harre eben so meiner Erlösung; meine Geschäffte sind geschlossen und wenn ich nicht wieder von vorne anfangen will muß ich gehen; nun kommt dein Brief und vermehrt die Sehnsucht dich wiederzusehen. Heute hab ich Götz v. Berlichingen durchgegangen, und Wielands und Herders Bemerckungen verglichen und mich über verschiedne Korreckturen decidirt. Hierbey liegt Herders Zettelgen womit er mir das Stück zurücksandte; ich fahre nun fort; was ich hier thue hab ich im Carlsbad zu gut und kann dort meine Gedancken zur Iphigenie wenden.

Die Schwester und Schwägerinn sind sehr artig, sie haben bey mir gegessen, ich habe ihnen gelesen und deine Gesundheit ist getruncken worden.

Wielands Frau hat eine Tochter gebohren, er hat die schöne Gräfinn nicht zu Gevatter gebeten.

Der Herzog Ludwig bleibt biß zur Taufe die wir alle erwarten.

Nun ein Wort von des Afrikaner Einsiedels Negotiation! Er war bey der Werthern Bruder und hat freundschafftlich mit ihm getruncken. Dieser edle Bruder ist des Morgens düster, nachmittage betruncken [239] und das Resultat der Unterhandlungen ist sehr natürlich und sehr sonderbar ausgefallen. Münchhausen erklärt: daß wenn seine Schwester von ihrem Manne ordentlich geschieden, mit ihrem Liebhaber ordentlich getraut seyn werde, er sie für seine Schwester erkennen und bey der Mutter ausdrücken wolle daß sie auch als Tochter anerkannt und ihr das Erbtheil nicht entwendet werde. Für einen Truncknen ein sehr nüchterner Vorschlag. Nun aber unsre Flüchtlinge! Wie abscheulich! – Zu sterben! nach Afrika zu gehen, den sonderbarsten Roman zu beginnen, um sich am Ende auf die gemeinste Weise scheiden und kopuliren zu lassen. Ich hab es höchst lustig gefunden. Es lässt sich in dieser Werckeltags Welt nichts auserordentliches zu Stande bringen.

Diese und andre Geschichten verlangt mich sehr dir zu erzählen, da ich nie recht schreibseelig bin. Diesmal sitz ich am Kamine und trotze der Kälte und Nässe. Ich bin von tausend Vorstellungen getrieben, beglückt und gepeinigt. Das Pflanzenreich raßt einmal wieder in meinem Gemüthe, ich kann es nicht einen Augenblick loswerden, mache aber auch schöne Fortschritte. Da ich meine alte Schrifften durchgehe, werden auch viel alte Übel rege. Es ist eine wunderbare Epoche für mich, in der du mir eben fehlst. Heut über acht Tage hoff ich nicht weit von dir zu seyn. Das schlimmste ist, ich habe in Jena noch drey Tage zu thun. Hätt ich die Verspätung [240] unserer Hoffnungen ahnden können; so wäre ich indessen hinüber gegangen und hätte meine Sachen vollendet, und wäre von hier gerade auf Carlsbad abgereist.

Auf alle Fälle kann's nicht länger als diese Woche dauern und ich bitte dich, mir wenn du diesen Brief erhälst ein Quartier in deinem Hause etwa vom 16ten an zu akkordiren, ich bringe Vogeln mit und brauche zwey Betten. Wenn ich in deiner Nähe bin ist mir's wohl. Wäre es in deinem Hause nicht; so sieh dich sonst um, du brauchst aber alsdenn nicht abzuschliesen.

Fritz ist sehr lustig, Ernst geduldig, mit seinem andern Fuße ists zwiefelhafft, die Chirurgi behaupten es sey auch gut ihn aufzumachen, nur getrauten sie sich es nicht um der Vorwürfe willen. Ich verstehe nichts davon, und da mein Wunsch ihn im Carlsbad zu wissen nicht erfüllt worden; so habe ich für den armen Jungen keinen mehr zu thun. Seine Leidenskrafft geht über alle Begriffe. Voigt besucht ihn und schafft ihm Bücher, und wie er nur keine Schmerzen hat ist er lustig.

Der alte Herzog – daß ich doch ein Wort von ihm sage – ist eben von den Kindern dieser Welt, denen ich ihr Wesen gerne gönnen mag, ich will dir ihn recht mahlen wenn ich komme; Schade daß er nicht regierender Herr war. Denn ich sage immer wer sich mit der Administration abgiebt, ohne regierender Herr zu seyn, der muß entweder ein Philister [241] oder ein Schelm oder ein Narr seyn. Diesen, wäre er Prinz von Oranien gewesen, hätten sie vergöttert; so war er des Prinzen v. Or. Verstand, nun haben sie ihn zum Teufel geschickt. Über diese Materie mach mich reden wenn ich zu dir komme; Zu schreiben ist's nicht, man sagt zu viel oder zu wenig. Und ich mögte dir doch gerne mancherley sagen und das bestimmteste.

Am meisten freut mich ietzo das Pflanzenwesen, das mich verfolgt; und das ists recht wie einem eine Sache zu eigen wird. Es zwingt sich mir alles auf, ich sinne nicht mehr drüber, es kommt mir alles entgegen und das ungeheure Reich simplificirt sich mir in der Seele, daß ich bald die schwerste Aufgabe gleich weglesen kann.

Wenn ich nur jemanden den Blick und die Freude mittheilen könnte, es ist aber nicht möglich. Und es ist kein Traum keine Phantasie; es ist ein Gewahrwerden der wesentlichen Form, mit der die Natur gleichsam nur immer spielt und spielend das manigfaltige Leben hervorbringt. Hätt ich Zeit in dem kurzem Lebensraum; so getraut ich mich es auf alle Reiche der Natur – auf ihr ganzes Reich – auszudehnen.

Nun lebe wohl du Geliebteste einzige, der sich meine ganze Seele enthüllen und hingeben mag; ich freue mich deiner Liebe und rechne darauf, für alle künftige Zeiten. Ich bringe dir ein Geschenk in's[242] Carlsbad mit das dich freuen wird, ich war recht glücklich es zu finden. Lebe wohl. Ich lasse den Brief noch auf weil ich vor Abgang der Post noch auf einen fürstlichen Erben hoffe. Leb wohl.

d. 10. Jul. 86.

G.
Es ist zehn Uhr und noch alles wie es war.
Die Imhof giebt mir ihren Brief mit der Bedingung daß ich ihn nicht lese.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1786. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8B4C-1