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An die Hoftheater-Commission

Diejenigen Personen, welche die Führung eines Hof-Theaters anvertraut worden, und besonders die deren Obliegenheit es ist zu beurtheilen, ob ein Stück aufführbar sey, haben sich seit geraumer Zeit in einer sehr unangenehmen Lage befunden, indem die deutsche Bühne sich nicht nur von den strengen Geschmacksregeln, sondern auch von manchen andern Verhältnissen und Betrachtungen losgesagt und sowohl im Kunst- als bürgerlichen Sinne die Gränzen weit überschritten hat.

Zu einer Zeit, wo alles nach ungemessener Freyheit strebte, fingen die deutschen Theater-Dichter gleichfalls an, den obern den Krieg anzukündigen, [235] und es verbreitete sich ein Sansculottisme über die Bühne, der indem solche Stücke der großen Menge sehr angenehm waren, nothwendig Ursache seyn mußte, daß bey Hof-Theatern manche solche Stücke gar nicht gegeben, andere aber durch Verstümmlung so verunstaltet wurden, daß sie ihre Wirkung größtentheils verfehlten.

Bey den Weimarischen Hof-Theater hat man durch die Nachricht gnädigster Herrschaften, begünstigt eine Mittelstraße gewählt und die anstößigsten Stellen theils nach und nach ausgelöscht, so daß nicht leicht etwas ganz Auffallendes vorkam.

In der neuern Zeit, so wie Alles, auch das deutsche Theater eine andere Richtung genommen und es glauben einige Autoren, besonders der fruchtbarste unter denselben, sich durch Sticheleyen und Anzüglichkeiten der Oberherrschaft widersetzen zu können, die um ihre großen und weiten Plane auszuführen, freylich nicht immer die sanftesten Mittel gebrauchen kann.

Endesunterzeichnetem hat es bisher obgelegen die Stücke zu wählen und zu beurtheilen, in wiefern sie aufführbar sind. Sein eigentlicher Standpunkt konnte nur der ästhetische seyn; allein er hat auch jenen politischen nicht außer Acht gelassen und wo ihm etwas Bedenkliches aufgefallen, solches ohne weiteres weggestrichen. Dabey muß er jedoch bekennen, daß er manches Unschickliche und solches erst nach einer oder mehreren Vorstellungen durch sich selbst [236] oder durch Freunde, deren Aufmerksamkeit er angerufen, belehrt, gleichfalls hinweg gestrichen.

So groß auch diese Unannehmlichkeit seyn mochte rechnete er sie doch zu den mehrern, welchen dieses Geschäft unterworfen ist, und verfolgte, auf Serenissimi gnädigste Nachricht hoffend, seinen alten Weg.

Allein nunmehr verändert sich die Sache, indem ein k. k. französischer Gesandter hierher kommt und die Verhältnisse nicht allein nach Ihnen sondern auch nach Außen zu bedenken sind. Ja bloß menschlich betrachtet, wird man hierbey zu einer genauern Aufmerksamkeit aufgefordert; denn wer möchte einem Gaste etwas unangenehmes erzeigen, wenn es auch keine Folge hätte? Unterzeichneter wünscht daher, daß Herzogliche Hof-Theater Commossion seine Bitte unterstützen möge, die derselbe an Serenissimum zu thun sich genöthigt sieht.

Schon in früherer Zeit hatte Commissio, aus eigenem Antrieb und für sich, verschiedene wackere, hier in Diensten stehende junge Männer ersucht, gewisse problematische Stücke mit Aufmerksamkeit durchzugehen und die verfänglichen Stellen zu bemerken, welche direct oder indirect verletzen könnten, und auf diese Weise ist auch manches Unangenehme vermieden worden. Allein weil dieses keine durch eine Sanction von oben, befestigte Anstalt war, auch eine gewisse mittlere Zeit weniger Apprehension gab, so ist sie wieder abgekommen, und hat sich so gut als [237] möglich aus der Sache gezogen. Deshalb wäre es nichts Neues, sondern nur eine von oben bekräftigte schon früher intentionirte Einrichtung.

Die Sache ist an und für sich selbst sehr leicht und würde auch demjenigen, dem solches Geschäft übertragen würde, keine sonderliche Beschwerde geben. Neue Stücke würde ich vor wie nach durchsehen und beurtheilen und sollte sich etwas Vergängliches darin finden, es sogleich wegstreichen und das Exemplar, mit Bemerkung meines Namens auf dem Titelblatte, als Zeugniß, daß ich das Stück gelesen, dem Beauftragten zusenden. Dieser striche gleichfalls, was ihm unzullässig schiene, ohne weitere Rücksprache weg und bemerkte nur allenfalls, wo vielleicht, wie es öfter zu geschehen pflegt, durch Wegstreichen eine Lücke entstanden, wenn er solche selbst auszufüllen nicht etwa geneigt wäre.

Ferner würde man sobald die neue Einrichtung getroffen ist, die ältern Stücke, die sich auf dem Repertorium gehalten haben, nach und nach dem Beauftragten zuschicken und mit denjenigen den Anfang machen, welche zunächst aufgeführt zu werden bestimmt sind. Denn was eben diese ältern Stücke betrifft, so ist man am ersten in Gefahr, Stellen zu übersehen, welche eine Deutung auf das Gegenwärtige zulassen: denn da sie vor soviel Jahren geschrieben sind, so liegt die mögliche Anwendung nicht in der Sache, sondern in demjenigen selbst, der sie zu machen [238] geneigt ist; und doch kommen Fälle vor, wo man einen bösen Willen vermuthen würde, wenn es nicht von Altersher gedruckt und in den Rollen geschrieben stünde. Ich erspare einige andere kleine Bemerkungen, welche das Geschäft erleichtern und fördern, bis zu Serenissimi gnädigsten Entschluß.

Weimar d. 5. Januar 1812.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An die Hoftheater-Commission. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8BDB-1