35/150.

An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Die vierzehntägige Gegenwart Zelters, seiner Tochter und eines merkwürdigen jungen Clavierspielers hat mich abermals mitten nach Berlin versetzt, daß ich kaum mehr unterscheiden kann ob ich das alles gesehen, oder ob ich es nur gehört habe; zwar kommen freylich die schönen Zeichnungen und Umrisse sehr zu statten, mit welchen der treffliche Schinkel mich fleißig versieht und mich von Zeit zu Zeit auch der neusten architektonischen Wunder theilhaft werden läßt.

Zu Gegenwärtigem veranlaßt mich eigentlich beykommendes Heft, welches als ein Theil meiner Confessionen [191] angesehen werden kann. Wenn die jungen Künstler dieses Unternehmen fortzusetzen Ursache finden, so läßt sich wohl manches in der Folge daran knüpfen. Ich habe verschiedenes über Künstler und Dilettanten auf dem Herzen, welches ausgesprochen beiden nützlich werden kann. Es gibt so viele offenbare Geheimnisse, weil das Gefühl derselben bey wenigen in's Bewußtseyn tritt und diese denn, weil sie sich und andere zu beschädigen fürchten, eine innere Aufklärung nicht zum Worte kommen lassen.

Ich redigire wieder manches dem Setzer in die Hände; deshalb darf ich aber doch nicht hoffen jemals aufzuräumen; der Stoff bleibt immer derselbe, leider aber behagen frühere Behandlungen nicht mehr; wie die Natur uns täglich umarbeitet, so können wir's auch nicht lassen das Gethane umzuthun.

Eine angenehme Zwischenbeschäftigung hatte ich diesen Sommer; Professor Hermann in Leipzig gab Fragmente eines Euripidischen Trauerspiels heraus, eines Phaetons, Anfang und Ende, die Mitte fehlt. Nun sind von einem so benamsten Stück schon kleinere Fragmente bekannt, und ich ward zu einem Versuch getrieben, das Stück wenigstens gewissermaßen wieder herzustellen; es ist unglaublich groß gedacht und nöthig uns zum Denken; das Unternommene muß noch reifer werden; was auch daraus entstehe, wird es Ihnen gewiß Freude machen.

Ich habe bey dieser Gelegenheit den Euripides [192] wieder vorgenommen und begreife immer besser, wie Aristophanes ihn hassen und ganz Griechenland ihn verehren konnte; auch er ist das Geschöpf so wie der Günstling seiner Zeit, vor der wir uns denn freylich tief zu verbeugen haben.

Auch lege einige Blätter bey, die auf ein Wechselverhältniß mit England hindeuten, welches sich neuerlich abermals bethätigt hat; bis Nationen sich einander anerkennen, dazu bedarf es immer Zeit und wenn es geschieht, geschieht es durch beiderseitige Talente, die einander eher als der große Haufe gewahr werden. Gedichte dieser Art, die wohl zu den didaktischen gerechnet werden können, haben mehr geschrieben als ich selbst wußte; ein Freund veranlaßt mich alles zu sammeln, was sich gleicherweise auf Naturwissenschaft bezieht, und es findet sich schon manches was einander freundlich antwortet. Wäre das Leben, selbst das einfachste, nicht so verclausurirt, so könnte man mehr thun und sich des Gethanen freuen. Ordnung und Sonderung laß ich mir denn freylich jetzt vor allem empfohlen seyn, eigentlich kommt man aber doch nicht recht zu Besinnung.

Die Tabelle zur Farbenlehre habe ich abdrucken lassen wie sie zuerst lag, werde aber die Bemerkung nicht versäumen; daß durch Ihre und Purkinje's Arbeiten die physiologe Abtheilung auf's neue an Gehalt und Gestalt gewinnen müsse.

Da wir einmal so weit gelangt, will ich auch noch[193] des wackern Schubarths gedenken, der Ihnen gewiß täglich lieber geworden. Auch dieß gehört zu den Wunderlichkeiten meiner alten Tage, daß junge Leute aufstehen, die den immerfort einenden und versöhnenden Dichter gegen den zersplitternden unversöhnlichen Kritiker in Schutz nehmen. Was ich mit dem Auszug aus der Ilias gewollt, wird sich in kurzem aufklären, wenn sich die Nothwendigkeit offenbaren wird, dieses Werk aller Werke bequem zu übersehen und es als ein Ganzes, wie es auch zu uns gekommen, dankbar anzuerkennen. Ich darf mich nicht weiter und dieß Feld verlieren, sondern schließe mit der Bitte um fortdauernden Antheil und herzliche Gewogenheit.

treulichst

Weimar den 28. November 1821.

Goethe.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1821. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8C70-7