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An Marie Anna Louise Nicolovius

[27. Januar.]

Ihr freundlicher Brief, liebe Nichte, liegt schon wieder zu lange bey mir, ohne daß ich ihn beantwortet hätte. Ich bin überhaupt kein fleißiger Correspondent, aber zwischen uns ist es das Schlimme, daß wir uns nie oder wenigstens so lange nicht gesehen haben; denn in der Persönlichkeit liegt doch eigentlich der wahren Grund menschlicher Verhältnisse. Freylich habe ich von Ihnen Liebes und Gutes genug vernommen, und wenn wir je zusammenträfen, würden Sie finden, daß mit dem Oheim auch ganz leidlich auszukommen ist. Haben Sie indessen recht vielen Dank für die Schilderung Ihrer lieben Familie, deren Verminderung ich herzlich bedaure. Unsere gute Mutter hat uns noch immer zu früh verlassen; doch können wir uns dadurch beruhigen, daß sie ein heiteres Alter gelebt und daß sie sich durch den Drang der Zeiten sicher und selbstständig durchgehalten hat. Ich danke Ihnen und Ihrem lieben Gatten, daß Sie durch Ihr Schreiben ein neues Band anknüpfen wollen, indem[289] sich das alte auflöst... Meine Frau grüßt herzlich und wünscht mit mir, Sie Beyde einmal zu sehen, welches jetzt eher möglich und wahrscheinlich wird, da Sie uns um so vieles näher kommen. Mög' aus dieser Veränderung des Wohnorts und der äußern Verhältnisse alles Gute entspringen... Sagen Sie Ihrem lieben Gatten, für den ich kein besonders Blatt einlege, daß auch ich jenem Mann, dem er seine Bildung verdankt, gar manches, zwar nicht unmittelbar doch durch die Vermittelung unsers trefflichen Herder's schuldig geworden sey, und daß sein Andenken bey allen denen immer lebendig bleibt, die aufrichtig anerkennen, welchen großen Antheil an deutscher Cultur jene Männer gehabt, die in der zweyten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in Königsberg zusammenlebten und wirkten... In Berlin treffen Sie einen meiner werthesten Freunde Herrn von Humboldt und treten mit ihm, soviel ich weiß, in ein näheres Verhältniß. Es freut mich für Beyde: denn in der gegenwärtigen Lage der Hauptstadt sowohl als des Staats ist die Mitwirkung einsichtsvoller und aufrichtiger Männer höchst wünschenswerth. Kommen Sie in Berlin an, so lassen Sie es uns erfahren. Verzeihen Sie, daß ich durch eine fremde Hand schreibe. Es ist einmal eine eingewurzelte Unart, daß meine Hand zum schreiben faul und unentschlossen geworden, und meine Freunde haben mich durch ihre Nachsicht verwöhnt. Grüßen Sie die Ihrigen herzlich. Von [290] meinem Sohn in Heidelberg habe ich gute Nachricht.

Gedenken Sie unser in Liebe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1809. An Marie Anna Louise Nicolovius. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8D1B-0