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An Christoph Ludwig Friedrich Schultz

Auf Ihr so werthes, treu-bedeutendes Schreiben alsobald einiges zu erwidern, fange ich, verehrter Freund, folgendermaßen an.

Auf dem freyen Platze meinem Hause gegenüber steht ein großes anständiges Wasserbecken, welches von einer stark fließenden Röhre hinreichend genährt wird. Dahin kommen, besonders Morgens und Abends, Frauen, Töchter, Mägde, Gesellen, Kinder, das nothwendige Ingredienz ihres Daseyns abzuholen.

Hier ist das Geschäft einfach und doch mannichfaltig: aus dem Becken wird geschöpft, in Butter genossen, zum Reinigkeitsgebrauche auf dem Rücken fortgetragen. Zum Trinken werden Krüge unter die Röhre gestellt, zu Koch- und feinerem Bedürfniß Eimer untergeschoben. Dabey ist nun die Haltung der Handelnden und Abwartenden nie dieselbe; die Mannigfaltigkeit der Gebärden ist unendlich, die Stellung derjenigen sowohl, die im Besitz des Empfangs ist, als der andern, die auf den Augenblick paßt, bis die Reihe an sie kommen soll, zeigt keine Spur von Ungeduld, alles geht im Tact, und doch ist ein seiner Unterschied zwischen einer und der andern zu bemerken. Salat an Ort und Stelle zu waschen, ist jetzt streng polizeylich verboten. Schade! das gab recht artige häusliche Stellung, und doch bleibt noch genug übrig, von [81] der früh Ankommenden, Einsamen bis zum Gedränge der höhern Tagesstunden, bis zuletzt die ganze Anstalt wieder verlassen dasteht, und doch endlich noch ein Knabe auf den Rand des Beckens bis zu dem Pfeiler hinaufsteigt, um sich, über die Röhre gedrückt, unmittelbar aus derselben zu erquicken.

Hier wäre nun Gelegenheit, wo der bildende Künstler beweisen könnte, was er zu sehen, zu lassen, zu wählen und nachzubilden im Stande sey. Eine nothwendige unerläßliche Handlung der Menschheit in allen ihren Momenten zu studiren, wo jeder bedeutend ist, aber auch manchmal ganz pertinent, schön, grazios und vom besten Sinn und Styl seyn kann. Und so hätten wir einen Fall für tausend, woraus evident ist, daß ohne unmittelbare Vereinigung von Object und Subject kein lebendiges Kunstwerk zu Stande kommen kann.

Ich danke der kritischen und idealistischen Philosophie, daß sie mich auf mich selbst aufmerksam gemacht hat, das ist ein ungeheuer Gewinn; sie kommt aber nie zum Object, dieses müssen wir so gut wie der gemeine Menschenverstand zugeben, um am unwandelbaren Verhältniß zu ihm die Freude des Lebens zu genießen.

Vorstehendes eiligst Verfaßte möge den verehrten Freund bey glücklicher Ankunft in Bonn begrüßen und ihn veranlassen, von Zeit zu Zeit von seinem theuren Befinden und seinen würdigen Gedanken Meldung [82] zu thun. Denn selbst auf jenen ersten Brief, der mich zu dem Gegenwärtigen veranlaßte, habe noch manches zu erwidern und würde sehr erfreut seyn, verschiedenes mir am Herzen Liegende im Vertrauen mittheilen zu können, da man mit der Menge und Masse des Tags sich nicht gern weiter befassen möchte.

Und somit Glück zum Eintritt! in Hoffnung freudiger Folge, stetiger Behandlung und Mittheilung längst begonnener würdiger, wichtiger Unternehmungen, und also für das Nächste und Künftige das Beste.

treu angehörig

J. W. v. Goethe.

Weimar den 18. September 1831.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1831. An Christoph Ludwig Friedrich Schultz. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8D30-F