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An Berthold Georg Niebuhr

Als ich Ihren liebwerthen Brief in Carlsbad erhielt, wünschte ich mir nichts mehr, als daß auch [161] Ihr zweyter Theil zugleich mit angekommen wäre: denn dort ist mir erlaubt, eine Folge von Tagen auf Einen Gegenstand zu verwenden; und welcher verdiente es mehr als Ihr Werk? Nun bin ich schon wieder acht Wochen in Weimar, drey in Jena und hatte selten das Glück, wenige Stunden hinter einander meine Gedanken auf einen Punct zu richten. Auch gegenwärtig erlange ich nur durch einen Anlauf, durch eine eigne Resolution, daß ich mich mit Ihnen unterhalten kann.

Mein Interesse an Ihren Bemühungen ist immer dasselbe und es ist immer im Wachsen. Lassen Sie mich das Allgemeine statt des Besonderen aussprechen! Das Vorübergegangene kann unserm innern Aug und Sinn als gegenwärtig erscheinen durch gleichzeitige schriftliche Monumente, Annalen, Chroniken, Documente, Memoires, und wie das alles heißen mag. Sie überliefern ein Unmittelbares, das uns, so wie es ist, entzückt, daß wir aber auch wohl wieder, um andrer willen, aus hunderterley Trieben und Absichten vermitteln möchten. Wir thun's, wir verarbeiten das Gegebene, und wie? als Poeten, als Rhetoren! Das ist von jeher geschehn, und diese Behandlungsarten äußern große Wirkung; sie bemächtigen sich der Einbildungskraft, des Gefühls, sie füllen das Gemüth aus, bestärken den Charakter und erregen die That. Es ist eine zweyte Welt, welche die erste verschlungen hat. Denke man sich nun die Empfindungen [162] der Menschen, wenn diese Welt zerstört wird und jene nicht dem Anschauen vollkommen entgegentritt.

Höchst erwünscht ist jedem, der zu dem Uranschauen zurückkehren möchte, die Kritik, die alles Secundäre zerschlägt und das Ursprüngliche, wenn sie es nicht wieder herstellen kann, wenigstens in Bruchstücken ordnet und den Zusammenhang ahnden läßt. Aber das wollen die Lebe-Menschen nicht, und mit Recht.

Lassen Sie mich hier eine Kluft überspringen! Hätten wir zusammengelebt, hätte ich das Glück gehabt, von Ihren Untersuchungen seit Jahren unterrichtet zu seyn, so würde ich Ihnen gerathen haben, nach Weise des edlen und lieben St. Croix, Ihre Schrift zu betiteln:

Kritik der Schriftsteller, welche uns die

römische Geschichte überlieferten.

Für mich aber ist das Buch, und, wie Sie wissen, sind die Titel eine moderne Erfindung. Nehmen Sie also meine Freude, daß Sie in allen Hauptpuncten, was Welt und Völker betrifft, meines Sinnes sind, nehmen Sie meinen Dank, daß Sie mir die römische Geschichte wieder genießbar gemacht haben, indem Sie Sich zur Pflicht machen, die stationairen und retrogaden Epochen derselben in's vollste Licht zu setzen. Denn welcher geistreiche Mensch wird leugnen, daß es ihn in seiner Vorstellung genirt habe, [163] wenn eine solche hundertfache Ilias und so unendliche herrliche Helden, die viertausend Fabier mit eingeschlossen, nichts weiter in vierhundert Jahren zu Stande gebracht, als daß die Stadt, der Staat, der eben erst, nach unendlichen Bemühungen, mit den Philistern und Veji fertig geworden, auf die allerkleinstädtischeste Weise am Allia zu Grunde geht, so daß sie ganz wieder von vorne anfangen müssen.

Sieht man nun aber die Sache recht klar und deutlich nach Ihrer Darstellung, so gereicht dieß jenem Volke keineswegs zur Schmach, sondern zur Ehre. –

Ich muß zu einem andern Puncte überspringen.

Sie geben den Aristokraten die ganze Schuld des Krebsganges, Sie nehmen Sich der plebs an, und das ist ganz recht und dem unparteiischen Forscher erlaubt zu einer Zeit, wo weder die eine noch die andre mehr existirt.

Noch ein Allgemeines, damit ich nur zu Ende komme! Jeder anfangende Staat ist aristokratisch; er kann sich nur erweitern durch die Menge, die man abhält und niederhält, bis sie sich in gleiche Rechte setzt; und von dem Augenblicke an wird die Monarchie verlangt, die denn auch nicht fehlen kann, und von da aus kann sich's auf mancherley Weise wieder zurück und vorwärts wälzen. Denn alle drey Zustände (Zustand ist ein albernes Wort; weil nichts steht und alles beweglich ist) alle drey Verhältnisse leiden eben an dem Beweglichen, [164] welchem das Rechte und Große, wie das Schlechte und Lose, zum Spiele dient, damit ja alles geschehe.

Auf die Weise wie vorsteht (ich sehe nur einen Augenblick zurück), wenn sie gleich etwas wunderlich ist, hoffe ich doch, Sie zu überzeugen, daß man nicht einen innigern Antheil nehmen kann an Ihren Arbeiten, selbst in's besonderste. Ihren beyde Bände, und so der dritte, so die folgenden, werden mich stehts begleiten, wohin mich auch mein bewegliches Jahr führt, und weder Sie noch ich können voraussehn, was ich Ihnen alles verdanke; das Tüchtig-Regsame ist ganz allein wohlthätig! –

Berg und Thal kommen nicht zusammen aber wohl die wandelnden Menschen! und warum sollte ich nicht hoffen dürfen, Ihnen irgendwo zu begegnen? Lassen Sie mich diesem Blatte, wie ich so gern einem jeden, das von mir ausgeht, thun möchte, die clausulam salutarem hinzufügen: daß es Ihnen wo nicht einsichtig und zulänglich, doch herzlich und wohlgemeynt erscheinen möge.

Mit herzlichen Wünschen!

Jena den 23. November 1812.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Berthold Georg Niebuhr. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8DB0-D