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An Peter von Cornelius

Die von Herrn Boisserée mir überbrachten Zeichnungen haben mir auf eine sehr angenehme Weise dargethan, welche Fortschritte Sie, mein werther Herr Cornelius, gemacht, seitdem ich nichts von Ihren Arbeiten gesehen. Die Momente sind gut gewählt, und die Darstellung derselben glücklich gedacht, und die geistreiche Behandlung sowohl im Ganzen als Einzelnen muß Bewunderung erregen.

Da Sie sich in einer Welt versetzt haben, die Sie nie mit Augen gesehen, sondern mit der Sie nur durch Nachbildungen aus früherer Zeit bekannt geworden, so ist es sehr merkwürdig, wie Sie sich darin so einheimisch finden, nicht allein was das Costüm und sonstige Äußerlichkeiten betrifft, sondern auch der Denkweise nach; und es ist keine Frage, daß Sie, je länger Sie auf diesem Wege fortfahren, sich in diesem Elemente immer freyer bewegen werden.

Nur vor einem Nachtheile nehmen Sie sich in Acht: die deutsche Kunstwelt des 16. Jahrhunderts, die Ihren Arbeiten als eine zweyte Naturwelt zum Grunde liegt, kann in sich nicht vollkommen gehalten werden. Sie ging ihrer Entwicklung entgegen, die sie aber nie mals, so wie es der transalpinischen glückte, völlig erreicht hat. Indem Sie also Ihren Wahrheitsinn immer gewähren lassen; so üben Sie zugleich an den[87] vollkommensten Dingen der alten und neuen Kunst den Sinn für Großheit und Schönheit, für welchen die trefflichsten Anlagen sich in Ihren gegenwärtigen Zeichnungen schon deutlich zeigen. Zunächst würde ich Ihnen rathen, die Ihnen gewiß schon bekannten Steinabdrücke des in München befindlichen Erbauungsbuches so fleißig als möglich zu studiren, weil, nach meiner Überzeugung, Albrecht Dürer sich nirgends so frey, so geistreich, groß und schön bewiesen, als in diesen gleichsam extemporirten Blättern. Lassen Sie ja die gleichzeitigen Italiäner, nach welchen Sie die trefflichsten Kupferstiche in jeder einigermaßen bedeutenden Sammlung finden, sich empfohlen seyn; und so werden sich Sinn und Gefühl immer glücklicher entwickeln, und Sie werden im Großen und Schönen das Bedeutende und Natürliche mit Bequemlichkeit auflösen und darstellen.

Daß die Reinlichkeit und Leichtigkeit Ihrer Feder und die große Gewandtheit im Technischen die Bewunderung aller derer erregt, welche Blätter sehen, darf ich wohl kaum erwähnen. Fahren Sie fort auf diesem Wege alle Liebhaber zu erfreuen, mich aber besonders, der ich durch meine Dichtung Sie angeregt, Ihre Einbildungskraft in diese Regionen hinzuwenden und darin so musterhaft zu verharren.

Herrn Boisserées Neigung, die Gebäude jener würdigen Zeit herzustellen und uns vor Augen zu bringen, trifft so schön mit Ihrer Sinnesart zusammen, daß [88] es mich höchlich freuen muß, die Bemühungen dieses verdienten jungen Mannes zugleich mit den Ihrigen in meinem Hause zu besitzen. Wie Ihnen Ihr Blätter wieder zukommen sollen, werde ich mit Herrn Boisserée abreden.

Leben Sie recht wohl und lassen, nach einer so langen Pause, bälder wieder etwas von sich hören.

Weimar den 8. May 1811.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1811. An Peter von Cornelius. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8EA3-3