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An Carl Friedrich Zelter

Was soll der Freund dem Freunde in solchem Falle erwidern! Ein gleiches Unheil schloß uns auf's engste zusammen, so daß der Verein nicht inniger seyn kann. Gegenwärtiges Unglück läßt uns wie wir sind, und das ist schon viel.

Das alte Mährchen der tausendmal und immer noch einmal einbrechenden Nacht erzählen sich die Parzen unermüdet. Lange leben heißt viele überleben, so klingt das leidige das Ritornell unseres vaudevilleartig hinschludernden Lebensganges; es kommt immer wieder an die Reihe, ärgert uns und treibt uns doch wieder zu neuem ernstlichen Streben.

Mir erscheint der zunächst mich berührende Personenkreis wie ein Convolut sibyllinischer Blätter, deren eins nach dem andern, von Lebensflammen [94] aufgezehrt, in der Luft zerstiebt und dabey den überbleibenden von Augenblick zu Augenblick höhern Werth verleiht. Wirken wir fort bis wir, vor oder nacheinander, vom Weltgeist berufen in den Äther zurückkehren! Möge dann der ewig Lebendige uns neue Thätigkeiten, denen analog in welchen wir uns schon erprobt, nicht versagen! Fügt er sodann Erinnerung und Nachgefühl des Rechten und Guten was wir hier schon gewollt und geleistet, väterlich hinzu; so würden wir nur desto rascher in die Kämme des Weltgetriebes eingreifen.

Die entelechische Monate muß sich nur in rastloser Thätigkeit erhalten; wird ihr diese zur andern Natur, so kann es ihr in Ewigkeit nicht an Beschäftigung fehlen. Verzeih diese abstrusen Ausdrücke! man hat sich aber von jeher in solche Regionen verloren, in solchen Sprecharten sich mitzutheilen versucht, da wo die Vernunft nicht hinreichte und wo man doch die Unvernunft nicht wollte walten lassen.

Daß du mitten in deiner Trauer noch des Heftes von Kunst und Alterthum gedenkt, freut mich sehr, weil bey dem größten Verlust wir uns sogleich umherschauen müssen, was uns zu erhalten und zu leisten übrig bleibt. Wie oft haben wir in solchen Fällen mit neuer Hast unsere Thätigkeit erprobt, uns dadurch zerstreut und allem Tröstlichen Eingang gewonnen! Das entdeckte Verständniß der Aristotelischen Stelle[95] war mir ein großer Gewinn, sowohl um ihrer selbst und des ästhetischen Zusammenhanges willen, als weil eine Wahrheit Licht um sich her nach allen Seiten verbreitet.

Ein überzähliger Aushängebogen des dritten Bandes liegt hier bey. Möge er dir ein gutes Vorurtheil für das Übrige geben. Man besorgt den Abdruck mit großer Aufmerksamkeit und Sorgfalt; freylich werden wir immer dabey erinnert, daß wir keine Engländer sind.

Lebe wohl und gedenke meiner treuen Anhänglichkeit in guten und bösen Tagen; setze dich nieder öfters an mich zu schreiben, immer werd ich eine Stunde und genugsamen Anlaß finden zu erwidern und zu senden.

Bey mir geht es ruckweise, erst muß ich den italiänischen Manzoni, dann Kunst Alterthum, die nächste Lieferung meiner Werke, vielleicht bald die Schillerischen Briefe befördern. Auch sonst gibt's allerlei zu thun, Fremde nicht wenig; deshalb denn auch der empfohlene freundlich aufgenommen werden soll.

Für immer und ewig

der Deine

Weimar d. 19. März 1827.

Goethe. [96]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1827. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8F6C-C