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An Carl Friedrich Zelter

Carlsbad den 22. Juni 1808.

Ihr lieber Brief vom 6. April ist mir erst hier in die Hände gekommen. Die Eberweinischen Gesänge habe ich sogleich zurückgeschickt und Ihre gefällige Recension abschriftlich nachgeschickt. Wie vortheilhaft würde es diesem junge Menschen seyn, wenn er eine[83] gehörige Zeit unter Ihnen studiren könnte. Jetzt aber widerfährt ihm was allen Anfängern begegnet: sie gehen in der Irre wie die Schafe und ein Jeglicher sieht auf seinen Weg.

Für alles übrige was Sie auf meine Fragen mir zum Trost und Belehrung sagen, danke ich zum allerschönsten; nur habe ich bey Ihren theoretischen Äußerungen, welche, wie ich recht gut weiß, mit den Überzeugungen der physicalischen und musicalischen Welt übereinstimmen, nach meiner Art etwas zu erinnern. Wie sehr wünschte ich über diese Sache, welche mit andern, die ich ruminire, so genau zusammenhängt, mit Ihnen zu sprechen, weil sich mir alsdann gewiß einige Hauptknoten lösen würden. Ich lege ein Blatt bey, worauf Ihre Äußerung wiederholt steht, dahinter meine Zweifel, Einwendungen und Fragen, insofern ich mich in einer so complicirten Sache zusammenfassen konnte. Da ich die Puncte numerirt und eine Abschrift davon behalten habe, so könnten Sie mir nur auf Nummer für Nummer freundlich antworten, und ich würde Ihre Aufschlüsse mit meinem Concept zusammenhalten können.

Schon seit dem 15. May bin ich hier, habe die ersten vierzehn Tage bey dem schönsten Wetter auch fleißig genug zugebracht: nachher ist gute Gesellschaft gekommen und schlecht Wetter eingefallen, wodurch denn meine Lebensweise sich verändert hat. Eine dritte Epoche steht mir bevor, schönes Wetter und [84] große Gesellschaft; da ich denn wohl meine Zeit abermals in der Einsamkeit nutzen werde.

Das Exemplar meiner letzten acht Bände ist wohl noch nicht bey Ihnen angekommen. Auch bey seinem etwas späteren Erscheinen werden sie Ihnen hoffentlich willkommen seyn. Die Fragmente eines ganzen Lebens nehmen sich freylich wunderlich und incohärent genug neben einander aus; deswegen die Recensenten in einer gar eigenen Verlegenheit sind, wenn sie mit gutem oder bösem Willen das Zusammengedruckte als ein Zusammengehöriges betrachten wollen. Der freundschaftliche Sinn weiß diese Bruchstücke am besten zu beleben.

Wenn Ihnen das Vossische Sonett zuwider ist, so stimmen wir auch in diesem Puncte völlig überein. Wir haben schon in Deutschland mehrmals den Fall gehabt, daß sehr schöne Talente sich zuletzt in den Pedantismus verloren. Und diesem geht's nun auch so. Für lautere Prosodie ist ihm die Poesie ganz entschwunden.

Und was soll es nun gar heißen eine einzelne rhythmische Form, das Sonett z.B., mit Haß und Wuth zu verfolgen, da sie ja nur ein Gefäß ist, in das jeder von Gehalt hineinlegen kann was er vermag. Wie lächerlich ist's, mein Sonett, in dem ich einigermaßen zu Ungunsten der Sonette gesprochen, immer wiederkäuen, aus einer ästhetischen Sache eine Parteysache zu machen und mich auch als Parteygesellen [85] heranzuziehen, ohne zu bedenken, daß man recht gut über eine Sache spaßen und spotten kann, ohne sie deswegen zu verachten und zu verwerfen.

Den beykommenden Gedichten dieser Art wünsche ich bey Ihnen eine desto bessere Aufnahme. Nur bitte ich inständig sie nicht aus Händen zu geben.

Von hier wüßte ich nun weiter nichts zu schreiben, als das ich mich recht wohl befinde und auch fleißig bin wie es gehen will. Sind Ihnen die beyden ersten Hefte des Wiener Prometheus zur Hand gekommen; so haben Sie ja auch wohl meiner Pandora einen günstigen Blick geschenkt. In fünften oder sechsten Stück werden Sie dieses hübsche Kind näher kennen lernen. Lesen Sie doch ja Friedrich Schlegel: Über die Sprache und Weisheit der Indier, und bewundern, wie er ein ganz crudes christ-katholisches Glaubensbekenntniß mit den herrlichsten Ansichten über Welt-, Menschen- und Culturgeschichte zu verweben gewußt hat. Man kann dieses Büchlein also auch für eine Declaration seines Übertritts zur alleinseligmachenden Kirche ansehen. Alles dieses hocus-pocus, es mag nun wirken, wie es will, wird ihm aber doch im Ganzen nicht helfen. Die ächte Sinnesart ist zu weit verbreitet, und kann nicht mehr untergehen, sie mag sich auch durch Individualitäten soviel modificiren als sie will.

G.

[86] Ein Gleichniß als Nachschrift.

Alle Künste, indem sie sich nur durch Ausüben und Denken, durch Praxis und Theorie, heraufarbeiten konnten, kommen wir vor wie Städte, deren Grund und Boden worauf sie erbaut sind, man nicht mehr entziffern kann. Felsen wurden weggesprengt, eben diese Steine zugehauen und Häuser daraus gebaut. Höhlen fand man sehr gelegen und bearbeitete sie zu Kellern. Wo der feste Grund ausging, grub und mauerte man ihn; ja vielleicht traf man gleich neben dem Urfelsen ein grundloses Sumpffleck, wo man Pfähle einrammen und Rost schlagen mußte. Wenn das nun alles fertig und bewohnbar ist, was läßt sich nun als Natur und was als Kunst ansprechen? Wo ist das Fundament und wo die Nachhülfe? Wo der Stoff, wo die Form? Wie schwer ist es alsdann Gründe anzugeben, wenn man behaupten will, daß in den frühsten Zeiten, wenn man gleich das Ganze übersehen hätte, die sämmtlichen Anlagen, Natur-, Kunst-, Zweckgemäßer hätten gemacht werden können? Betrachtet man das Clavier, die Orgel, so glaubt man die Stadt meines Gleichnisses zu sehen. Wollte Gott ich könnte auch einmal an Ihrer Seite meine Wohnung dort aufschlagen und zum wahre Lebensgenuß gelangen; wobey ich alle Fragen über Natur und Kunst, über Theorie und Praxis, herzlich gern vergessen möchte.


[87] [Beilage.]

1) Die Moll Tonart unterscheidet sich von der Dur Tonart durch die kleine Terz.

Unterscheidet sie sich nicht aber auch durch die Verkleinerung oder Verengerung der übrigen Intervalle?

2) welche an die Stelle der großen Terz gesetzt wird.

Dieser Ausdruck kann nur gelten wenn man von der Dur Tonart ausgeht. Ein Theorist nordischer Nationen, der von den Moll Tönen ausginge, könnte eben so gut sagen, die große Terz werde an die Stelle der kleinen gesetzt.

3) Unsre heutige diatonische (natürliche) Tonleiter.

Daß die diatonische Tonleiter allein natürlich sey, dagegen geht eigentlich meine Opposition.

4) entspringt aus der Theilung der Saite. Theilt man diese in die Hälfte etc. etc.

Daß die Theilung der Saite in bestimmbare Theile Klänge hervorbringt die für das Ohr harmonisch sind, ist ein sehr hübsches Experiment, das denn auch eine gewisse Tonleiter begründen möchte; aber was auf diese Weise nicht gelingt, sollte es nicht auf eine andre Weise möglich seyn?

5) Man mag aber die Saite in soviel Theile theilen als man will, so entsteht niemals eine kleine Terz, obgleich man dieser dadurch immer näher kommen kann.

Es ist von einem Experiment zu viel gefordert,[88] wenn es alles leisten soll. Konnte man doch die Electricität erst nur durch Reiben darstellen, deren höchste Erscheinung jetzt durch bloße Berührung hervorgebracht wird. Man müßte auf ein Experiment ausgehen, wodurch man die Moll Töne gleichfalls als ursprünglich darstellen könnte.

6) Demnach ist diese kleine Terz kein unmittelbares Donum der Natur, sondern ein Werk neuerer Kunst.

Ich läugne die Folgerung, da ich die Vordersätze nicht zugebe.

7) Und man muß sie als eine erniedrigte große Terz betrachten.

Dieses ist eine Ausflucht deren sich die Theoristen gewöhnlich zu bedienen pflegen wenn sie etwas die Natur beschränkendes festgesetzt haben: denn alsdann müssen sie auf eine sehr paradoxe Weise, was sie einmal behauptet, wieder aufheben und vernichten. Wenn eine große Terz ein Intervall ist, das uns die Natur giebt, wie kann man sie erniedrigen ohne sie zu zerstören? Wie viel und wie wenig kann man sie erniedrigen, daß es keine große Terz und doch eine Terz sey? Und wo hört sie denn überhaupt auf noch eine Terz zu sein? Mein supponirter nordischer Theorist würde mit eben dem Rechte sagen, die große Terz sey eine erhöhte kleine.

8) Wie sie denn auch von den strengsten Componisten wie ein consonirendes Intervall behandelt worden.

[89] Hier tritt ja bedeutlich der Fall ein, der in der Kunst und Technik so oft vorkommt, daß sich der praktische Sinn von einer theoretischen Beschränkung ohne viel Complimente zu retten weiß.

9) D.h. sie darf überall, wie die große Terz, frey und unpräparirt eintreten, was in einem reinen Style keine Dissonanz darf.

Wenn sie als consonirendes Intervall behandelt wird, so ist sie consonirend: denn dergleichen läßt sich durch Convention nicht erst festsetzen. Wenn sie frey und unpräparirt eintreten darf, so ist sie keine Dissonanz; sie ist von Natur harmonisch, und eben so alles was wieder aus ihr entspringt.

Hier tritt eine oben schon berührte, bey der ganzen Naturforschung höchst merkwürdige Betrachtung ein. Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physicalische Apparat den es geben kann. Und das ist eben das grüßte Unheil der neuern Physik daß man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat, und blos in dem was künstliche Instrumente zeigen die Natur erkennen, ja was sie leisten kann dadurch beschränken und beweisen will. Eben so ist es mit dem Berechnen. Es ist vieles wahr was sich nicht berechnen läßt, so wie sehr vieles, was sich nicht bis zum entschiedenen Experiment bringen läßt. Dafür steht ja aber der Mensch so hoch, daß sich das sonst Undarstellbare in ihm darstellt. Was [90] ist denn eine Saite und alle mechanische Theilung derselben gegen das Ohr des Musikers? Ja, man kann sagen, was sind die elementaren Erscheinungen der Natur selbst gegen den Menschen, der sie alle erst bändigen und modificiren muß, um sie sich einigermaßen assimiliren zu können? Doch in diese Betrachtungen will ich mich dießmal nicht verlieren; ich behalte mir vor nächstens besonders darüber zu reden, so wie noch über einige andre Puncte mir Auskunft zu erbittern.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1808. An Carl Friedrich Zelter Ein Gleichniß als Nachschrift.. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-8FDB-0