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An Charlotte von Stein

[Luzern, Mitte November.]

Hier und da auf der ganzen Reise ward so viel von der Merkwürdigkeit der Savoier Eisgebirgen gesprochen und wie wir nach Genf kamen, hörten wir, dass es immer mehr Mode würde, dieselben zu sehen, dass der Herzog eine sonderliche Lust kriegte, seinen Weeg dahin zu nehmen, von Genf aus über Cluse und Salenche in's Thal Chamouni zu gehen, die Wunder zu betrachten, dann über Valorsine und Trient nach Martinach in's Wallis zu fallen. Dieser Weeg, den die meisten Reisenden nehmen, schien, wegen der Jahrszeit etwas bedenklich. Der Herr de Saussure wurde deswegen auf seinem Landgute besucht und um Rath gefragt. Er versicherte, dass man ohne Bedenken den Weeg machen könnte, es liege auf den mittlern Bergen noch kein Schnee und wenn wir in der Folge auf's Wetter und auf den guten Rath der Landleute achten wollten, der niemals fehl schlüge, so könnten wir mit aller Sicherheit diese Reise unternehmen.

Hier ist die Abschrifft eines sehr eiligen Tageregisters.

[122] Cluse in Savoiien den 3ten Nov. 1779.

Heute früh ist der Herzog mit mir und einem Jäger von Genf ab, Wedel mit den Pferden durch's pa? de vaud in's Wallis. Wir, in einem leichten Cabriolet, mit vier Rädern, fuhren erst, Hubern auf seinem Landgute zu besuchen, den Mann, dem Geist, Imagination, Nachahmungsbegierde zu allen Gliedern heraus will, einen der wenigen ganzen Menschen, die wir angetroffen haben. Er sezte uns auf den Weeg und wir fuhren sodann, die hohen Schneegebürge, an die wir wollten, vor Augen, weiter. Vom Genfersee lauffen die vordern Bergketten gegen einander, biss da, wo Bonneville, zwischen der Mole, einem ansehnlichen Berge und der Arve, inne liegt. Da assen wir zu Mittag. Hinter der Stadt schliesst sich das Thal, obgleich noch sehr breit an, die Arve fliesst sachte durch, die Mittagseite ist sehr angebaut und durchaus der Boden benuzt. Wir hatten seit früh etwas Regen, wenigstens auf die Nacht befürchtet, aber die Wolken verliessen nach und nach die Berge und theilten sich in Schäfgen, die uns schon mehr gute Zeichen waren. Die Luft war so warm, wie Anfangs September und die Gegend sehr schön, noch viele Bäume grün, die meisten braungelb, wenige ganz kahl, die Saat hochgrün, die Berge im Abendroth rosenfarb in's violette und diese Farben auf grossen, schönen, gefälligen Formen der Landschaft. Wir schwazten viel Gutes. Gegen fünfe kamen wir [123] nach Cluse, wo das Thal sich schliesset und nur einen Ausgang lässt, wo die Arve aus dem Gebürge kommt und wir morgen hinein gehen. Wir stiegen auf einen Berg und sahen unter uns die Stadt an einen Fels gegen über mit der einen Seite angelehnt, die andere mehr in die Fläche des Thals hingebaut, das wir mit vergnügten Bliken durchliefen und, auf abgestürzten Granitstüken sizend, die Ankunft der Nacht, mit ruhigen und mannichfaltigen Gesprächen, erwarteten. Gegen sieben, als wir hinab stiegen, war es noch nicht kühler, als es auf dem Sommer um neun Uhr zu seyn pflegt. In einem schlechten Wirthshaus, bei muntern und willigen Leuten, an deren Patois man sich erlustigt, erschlafen wir nun den morgenden Tag, vor dessen Anbruch wir schon unsern Stab weiter sezen wollen. Abends gegen 10.


Salenche den 4. Nov. Mitags.

Bis ein schlechtes Mitagessen von sehr willigen Händen wird bereitet seyn, will ich versuchen, das merkwürdigste von heute früh aufzuschreiben. Mit Tags Anbruch gingen wir zu Fuse von Cluse ab, den Weeg nach Balme. Angenehm frisch war's im Thal das lezte Mondsviertel ging vor der Sonne hell auf und erfreute uns, weil man es selten so zu sehen gewohnt ist, leichte, einzelne Nebel stiegen aus den Felsrizen aufwärts, als wenn die Morgenluft iunge Geister aufwekte, die Lust fühlten, ihre Brust [124] der Sonne entgegen zu tragen und sie an ihren Bliken zu vergülden. Der obere Himmel war ganz rein, nur, wenig quer, strichen durchleuchtete Wolkenstreiffen. Balme ist ein elendes Dorf, unfern vom Weeg, wo sich eine Felsschlucht wendet. Wir verlangten von den Leuten, dass sie uns zur Höle führen sollten von der der Ort seinen Ruhm hat. Da sahen sich die Leute unter einander an und sagten einer zum andern: Nehm' du die Leiter, ich will den Strik nehmen, kommt ihr Herrn nur mit! Diese wunderbare Einladung schrökte uns nicht ab, ihnen zu folgen. Der Stieg ging durch abgestürzte Kalchfelsenstüke erst hinauf, die durch die Zeit vor die steile Felswand aufgestufet worden und mit Hasel- und Buchenbüschen durchwachsen sind. Auf ihnen kommt man endlich an die Schicht der Felswand wo man mühseelig und leidig auf der Leiter und Felsstufen, mit Hülfe übergebogener Nussbäumen-Äste hinauf klettern muss, dann steht man fröhlich in einem Portal des Felsen, übersieht das Thal und das Dorf unter sich. Wir bereiteten uns zum Eingang, in die Höle, zündeten Lichter an und luden eine Pistole, die wir losschiessen wollten. Die Höle ist ein langer Gang, meist ebnes Bodens, auf einer Schicht, bald zu ein, bald zu zwei Menschen breit, bald über Mannshöhe, dann wieder zum büken und auch zum durchkriechen. Gegen die Mitte steigt eine Kluft aufwärts und bildet einen spizigen Dohm. In einer Eke schiebt eine Kluft abwärts, [125] wo wir immer gelassen siebzehn bis neunzehn gezählt haben, eh' ein Stein, mit verschiedentlich wiederschallenden Sprüngen, endlich in die Tiefe kam. An den Wänden sintert ein Tropfstein, doch ist sie an den wenigsten Orten feucht, und bilden sich lange nicht die reichen, wunderbaren Figuren, wie in der Baumannshöle. Wir drangen so weit vor, als es die Wasser zuliesen, schossen im Herausgehn die Pistole los, davon die Höle von einem starken dumpfen Klang erschüttert wurde und um uns wie eine Gloke summte. Wir brauchten eine starke viertel Stunde wieder heraus zu gehen, machten uns die Felsen wieder hinunter, fanden unsern Wagen und fuhren weiter. Wir sahen einen schönen Wasserfall auf Staubbachsart, er war weder sehr hoch noch sehr reich, doch weil die Felsen um ihn, wie eine runde Niche bilden, in der er herab stürzt und weit die Kalchschichten an ihm, in sich selbst umgeschlagen, neue und ungewohnte Formen bilden, sehr interessant. Bei hohem Sonnenschein kamen wir hier an, nicht hungrig gnug, das Mitagessen, das aus einem aufgewärmten Fisch, Kuhfleisch und hartem Brod bestehet, gut zu finden. Von hier geht weiter in's Gebürg kein Fuhrweeg für eine so stattliche Reisekutsche, wie wir haben, diese geht nach Genf zurük und ich nehme Abschied von Ihnen, um den Weeg weiter fort zu sezen. Ein Maulesel mit dem Gepäk wird uns auf dem Fuse folgen.

[126] Chamouni, den 4. Nov. Abends gegen 9.

Nur dass ich mit diesem Blat Ihnen um so näher rüken kann, nehme ich die Feder, sonst wär' es besser meine Geister ruhen zu lassen. Wir liesen Salenche in einem schönen, ofnen Thale hinter uns, der Himmel hatte sich, während unsrer Mitagrast, mit weisen Schäfgen überzogen, von denen ich hier eine besondre Anmerkung machen muss: Wir haben sie so schön und noch schöner, an einem heitern Tag, von den Berner Eisbergen aufsteigen sehen, auch hier schien es uns wieder so, als wenn die Sonne die leiseste Ausdünstungen von den höchsten Schneegebürgen, gegen sich aufzöge und diese ganz feine Dünste von einer leichten Luft, wie eine Schaumwolle, durch die Atmosphäre gekämmt würden. Ich erinnre mich nie in den höchsten Sommertagen, bei uns, wo dergleichen ähnliche Lufterscheinungen vorfallen, etwas so durchsichtiges, leichtgewobenes gesehen zu haben. Schon sahen wir die Schneegebürge, von denen sie aufsteigen, vor uns, das Thal fing an zu stoken, die Arve schoss aus einer Felskluft hervor, wir mussten einen Berg hinan und wanden uns, die Schneegebürge rechts vor uns, immer höher. Abwechselnde Berge, alte Fichtenwälder zeigten sich uns rechts, theils in der Tiefe, theils uns gleich. Links über uns waren die Gipfel des Bergs kahl und spizig. Wir fühlten dass wir einem stärkern und mächtigern Saz von Bergen immer näher rükten. Wir kamen [127] über ein breites troknes Beet von Kieseln und Steinen, das die Wasserfluthen die Länge des Bergs hinab zerreissen und wieder füllen. Von da in ein sehr angenehmes, eingenommnes, flaches Thal worinn das Dörfgen Serves liegt, von da geht der Weeg, um einige sehr bunte Felsen, wieder gegen die Arve. Wenn man über sie weg ist, steigt man einen Berg hinan, die Waffen werden hier immer grösser, die Natur hat hier mit sachter Hand, das Ungeheure zu bereiten angefangen. Es wurde dunkler, wir kamen dem Thale Chamouni näher und endlich darein. Nur die grossen Massen waren uns sichtbar, die Sterne gingen nach einander auf und wir bemerkten über den Gipfeln der Berge, rechts vor uns, ein Licht, das wir nicht erklären konnten, hell, ohne Glanz wie die Milchstrasse, doch dichter, fast wie die Pleïaden, nur grösser, unterhielte es lang unsre Aufmerksamkeit, biss es endlich, da wir unsern Standpunkt änderten, wie eine Piramiede, von einem innern, geheimnissvollen Lichte durchzogen, das dem Schein eines Johanniswurms am besten verglichen werden kann, über den Gipfeln aller Berge hervorragte und uns gewiss machte, dass es der Gipfel des mont blanc's war. Es war die Schönheit dieses Anbliks ganz auserordentlich, denn, da er mit den Sternen, die um ihn herumstunden, zwar nicht in gleich raschem Licht, doch in einer breitern zusammenhängendern Masse leuchtete, so schien er den Augen zu iener [128] höhern Sphäre zu gehören und man hatte Müh', in Gedanken seine Wurzeln wieder an die Erde zu befestigen. Vor ihm sahen wir eine Reihe von Schneegebürgen, dämmernder auf den Rüken von schwarzen Fichtenbergen liegen und wir sahen ungeheure Gletscher zwischen den schwarzen Wäldern herunter in's Thal steigen.

Meine Beschreibung fängt an unordentlich und ängstlich zu werden, auch braucht es eigentlich immer zwei Menschen, einen der's sähe und einen der's beschriebe.

Wir sind hier in dem mittelsten Dorfe des Thals, le Prieuré genannt, wohl logieret, in einem Hause, das eine Wittwe den vielen Fremden zu Ehren, vor einigen Jahren erbauen lies. Wir sizen am Camin und lassen uns den Muskatellerwein, aus der vallée d'aost besser schmeken, als die Fastenspeissen, die uns aufgetischt werden.


den 5ten Nov. Abends.

Es ist immer eine Revolution als wie wenn man in's kalte Wasser soll, ehe ich die Feder nehmen mag, zu schreiben. Hier hätt' ich nun grade Luft, Sie auf die Beschreibung der Savoiischen Eisgebürgen, die Bourit, ein passionirter Kletterer herausgegeben hat, zu verweisen.

Erfrischt durch einige Gläser guten Wein und den Gedancken, dass diese Blätter eher als die Reisenden[129] und Bourit's Buch, bei Ihnen ankommen werden, will ich mein möglichstes thun. Das Thal Chamouni, in dem wir und befinden liegt sehr hoch in den Gebürgen, es ist etwa sechs bis sieben Stunden lang und gehet ziemlich von Mitag gegen Mitternacht, der Charakter, der mir es vor andern auszeichnet, ist, dass es in seiner Mitte fast gar keine Fläche hat, sondern das Erdreich, wie eine Mulde sich gleich von der Arve aus gegen die höchsten Gebürge anschmiegt. Der Mont blanc und die Gebürge, die von ihm herabsteigen, die Eismassen, die diese ungeheure Klüfte ausfüllen, machen die östliche Wand aus, an der die ganze Länge des Thals hin sieben Gletscher, einer grösser als der andre herunter kommen. Unsere Führer, die wir gedingt hatten, das Eismeer zu sehen, kamen bei Zeiten. Der eine ist ein rüstiger, iunger Bursche, der andre schon älter und sich klug dünkender mit allen gelehrten Fremden Verkehr gehabt hat, von der Beschaffenheit der Eisberge sehr wohl unterrichtet und ein sehr tüchtiger Mann ist. Er versicherte uns, dass seit acht und zwanzig Jahren, so lang führ' er Fremde auf die Gebürge, er zum erstenmal so spät im Jahr, nach Allerheiligen, iemand hinaufbringe und doch versicherte er, dass wir alles eben so gut, wie im August sehen sollten. Wir stiegen, mit Speisse und Wein gerüstet den mont Anvert hinan, wo uns der Anblik des Eismeers überraschen sollte. Ich würde es, um die Baken [130] nicht so voll zu nehmen, eigentlich das Eisthal oder den Eisstrom nennen. Denn die ungeheuren Massen von Eis, dringen aus einem tiefen Thal, von oben anzusehn, in ziemlicher Ebne hervor. Grad hinten endigt ein spizer Berg, wo von beiden Seiten Eisflüsse sich in den Hauptstrohm ergiessen. Es lag noch nicht der mindeste Schnee auf der zakigten Fläche und die blauen Spalten glänzten gar schön hervor. Das Wetter fing nach und nach an sich zu überziehen und ich sahe wogige, graue Wolken, die Schnee anzudeuten schienen, wie ich sie niemals gesehen. In der Gegend wo wir stunden, ist die kleine von Steinen zusammengelegte Hütte für das Bedürfniss der Reisenden, zum Scherz das Schloss von Montanvert genannt. Monsieur Blaire, ein Engländer, der sich zu Genf aufhält, hat eine geräumigere, an einem schiklichern Ort, etwas weiter hinauf, erbauen lassen, wo man, am Feuer sizend, zu einem Fenster hinaus, das ganze Eisthal übersehen kann. Die Gipfel der Felsen gegen über und auch in die Tiefe des Thals hin, sind sehr spizig ausgezakt, es kommt daher, weil sie aus einer Gesteinart zusammen gesezt sind, deren Schichten fast ganz perpendikular in die Erde einschiessen, wittert eine leichter aus, so bleibt die andere spiz in die Luft stehen, solche Zaken werden Nadeln genennet und die aiguille du dru ist eine solche hohe merkwürdige Spize, grade dem mont anvert gegen über. Wir wollten nunmehro auch das Eismeer betreten [131] und diese ungeheure Massen auf sich selbst beschauen. Wir stiegen den Berg hinunter und machten einige hundert Schritte auf den wogigen Cristallklippen herum. Es ist ein ganz treflicher Anblik, wenn man, auf dem Eise selbst stehend, denen oberwärts sich herabdrängenden und durch seltsame Spalten geschiedenen Massen entgegen sieht, doch wollt' es uns nicht länger auf diesem schlüpfrigen Boden gefallen, wir waren weder mit Fuseisen, noch mit beschlagenen Schuhen gerüstet, vielmehr waren unsere Absäze durch den langen Marsch abgerundet und geglättet, wir machten uns also wieder zu denen Hütten hinauf und nach einigem Ausruhen zur Abreise fertig. Wir stiegen den Berg hinab und kamen an den Ort, wo der Eisstrohm stufenweis biss hinunter in's Thal dringt und traten in die Höle in der er sein Wasser ausgiesst. Sie ist weit, tief, von dem schönsten Blau, und es steht sich sichrer im Grund als vorn an der Mündung, weil an ihr sich immer grosse Stüke Eis schmelzend ablösen. Wir nahmen unsern Weeg nach dem Wirthshause zu, bei der Wohnung zweier Blondins vorbei: Kinder von zwölf bis vierzehn Jahren die sehr weise Haut, weise, doch schroffe Haare, rotte und bewegliche Augen wie die Kaninchen haben.

Die tiefe Nacht, die im Thale liegt, lädt mich zeitig zu Bette und ich habe kaum noch so viel Munterkeit Ihnen zu sagen, dass wir einen iungen zahmen Steinbok gesehen haben, der sich unter den [132] Ziegen ausnimmt, wie der natürliche Sohn von einem grossen Herrn, dessen Erziehung in der Stille einer bürgerlichen Famielie aufgetragen ist. Von unsern Diskursen geht's nicht an, dass ich etwas aus der Reihe mittheile, an Graniten, Gestellsteinen, Lerchen und Zirbelbäumen finden Sie auch keine grose Erbauung, doch sollen Sie ehestens merkwürdige Früchte von unserm botanisiren zu sehen kriegen. Ich bilde mir ein, sehr schlaftrunken zu sein und kann nicht eine Zeile weiter schreiben.


Chamouni den 6. Nov. früh.

Zufrieden mit dem, was uns die Jahrszeit hier zu sehen erlaubte, sind wir reisefertig noch heute in's Wallis durchzudringen. Das ganze Thal ist über und über biss an die Helfte der Berge mit Nebel bedekt, wir müssen erwarten, was Sonne und Wind zu unserm Vortheil thun werden. Unser Führer schlägt uns einen Weeg über den col de balme vor. Ein hoher Berg, der an der nördlichen Seite des Thals gegen Wallis zu liegt und auf dem wir, wenn wir glüklich sind, das Thal Chamouni, mit seinen meisten Merkwürdigkeiten, noch auf einmal von seiner Höhe übersehen können. Indem ich dieses schreibe geschieht an dem Himmel eine herrliche Erscheinung: Die Nebel, die sich bewegen und die sich an einigen Orten brechen, lassen, wie durch Tagelöcher den blauen Himmel sehen und die Gipfel der Berge, die [133] oben, über unsrer Dunstdeke, von der Morgensonne beschienen werden. Auch ohne die Hofnung eines schönen Tags, ist dieser Anblik dem Aug' eine rechte Weide. Erst iezo hat man einiges Maas für die Höhe der Berge. Erst in einer ziemlichen Höhe vom Thal auf, streichen die Nebel an dem Berg hin, hohe Wolken steigen von da auf und alsdenn sieht man noch über ihnen die Gipfel der Berge in der Verklärung schimmern. Es wir Zeit! Ich nehme zugleich von diesem geliebten Thal und von Ihnen Abschied.


Martinach im Wallis den 6. Nov. Abends.

Glüklich sind wir herüber gekommen und so wäre auch dieses Abentheuer bestanden. Die Freude über unser gutes Schiksaal wird mir noch eine halbe Stunde die Feder lebendig erhalten.

Unser Gepäk auf ein Maulthier geladen, zogen wir gegen neune früh von Prieuré aus. Die Wolken wechselten, dass die Gipfel der Berge bald erschienen bald verschwanden, bald die Sonne streifweis in's Thal dringen konnte, bald die Gegend wieder verdekt wurde. Wir gingen das Thal hinauf, den Ausguss des Eisthals vorbei, ferner den glacier d'argentiére hin, der höchste von allen, dessen oberster Gipfel uns aber von Wolken bedekt war. In der Gegend wurde Rath gehalten, ob wir den Stieg über den col de balme unternehmen und den Weeg über Valorsine [134] verlassen wollten. Der Anschein war nicht der vortheilhafteste, doch da hier nichts zu verlieren und viel zu gewinnen stund, traten wir unsern Weeg kek gegen die dunkle Nebel- und Wolkenregion an. Als wir gegen den glacier du tour kamen, rissen sich die Wolken aus einander und wir sahen auch diesen schönen Gletscher in völligem Lichte. Wir sezten uns nieder, tranken eine Flasche Wein aus und assen etwas weniges. Wir stiegen nunmehro immer den Quellen der Arve auf rauhern Matten und schlecht berasten Gegenden, entgegen und kamen dem Nebelkreis immer näher, biss er uns endlich völlig aufnahm. Wir stiegen eine Weile gedultig fort, als es auf ein mal wieder über unsern Häuptern helle zu werden anfing, und wir aufschritten. Wenig dauerte es, so traten wir aus den Wolken heraus, sahen sie in ihrer ganzen Last, unter uns auf dem Thale liegen und konnten die Berge, die es rechts und links einschliessen ausser dem Gipfel des mont blanc's, der mit Wolken verdekt war, sehen, deuten und mit Namen nennen.

Wir sahen einige Gletscher von ihren Höhen biss zu der Wolkentiefe herabsteigen, von andern sahen wir nur die Pläze, indem uns die Eismassen durch die Bergschründe verdekt wurden. Über die ganze Wolkenfläche sahen wir, ausser dem mittägigen Ende des Thales, ferne Berge im Sonnenschein. Was soll ich Ihnen die Namen von denen Gipfeln, Spizen, Nadeln, Eis- und Schneemassen vorerzählen, die Ihnen [135] doch kein Bild weder vom Ganzen noch vom Einzeln in die Seele bringen, merkwürdiger ist's, wie die Geister der Luft sich unter uns zu streiten schienen. Kaum hatten wir eine Weile gestanden und uns an der grossen Aussicht ergözt, so schien eine feindseelige Gährung in dem Nebel zu entstehen, der auf einmal aufwärts strich und uns auf's neue einzuwikeln drohte. Wir stiegen stärker den Berg hinan, ihm nochmals zu entgehen, allein er überflügelte uns und rollte uns ein. Wir stiegen immer frisch aufwärts und bald kam uns ein Gegenwind vom Berge selbst zu Hülse, der durch den Sattel, der zwei Gipfel verbindet, hereinstrich und den Nebel wieder in's Thal zurüktrieb. Dieser wundersame Streit wiederholte sich öfters und wir langten endlich glüklich auf dem col de balme an. Es war ein seltsamer, eigner Anblik, der höchste Himmel, über den Gipfeln der Berge, war überzogen, unter uns sahen wir durch den manchmal zerissnen Nebel in's ganze Thal Chamouni und zwischen diesen beiden Wolkenschichten waren die Gipfel der Berge alle sichtbar. Auf der Ostseite waren wir von schroffen Gebürgen eingeschlossen, auf der Abendseite sahen wir in ungeheure Thäler, wo doch auf einigen Matten sich menschliche Wohnungen zeigten. Vorwärts lag uns das Wallisthal, wo man mit einem Blik bis Martinach hinein sehen konnte. Von allen Seiten von Gebürgen umschlossen, die sich weiter gegen den Horizont immer zu vermehren und [136] aufzuthürmen schienen, so standen wir auf der Gränze von Savoiien und Wallis. Einige Contrebandiers kamen mit Mauleseln den Berg herauf und erschraken vor uns, da sie an dem Plaz iezo niemand vermutheten. Sie thaten einen Schuss, als ob sie sagen wollten: »damit ihr seht dass sie geladen sind« – und es ging einer voraus um uns zu recognosciren. Da er unsern Führer erkannte und unsre harmlose Figuren sah, rükten die andre auch näher und wir zogen, mit wechselseitigen Glükwünschen von ein ander vorbei. Der Wind ging scharf und es fing ein wenig an zu schneien. Nunmehro ging es durch einen sehr rauhen und wilden Stieg abwärts, durch einen alten Fichtenwald, der sich auf Platten von Gestellstein eingewurzelt hatte. Vom Wind übereinander gerissen, verfaulten hier die Stämme mit ihren Wurzeln und die zugleich losgebrochne Felsen lagen schrof durcheinander. Endlich kamen wir in's Thal, wo der Trientfluss aus einem Gletscher entspringt, liessen das Dörfgen Trient ganz nahe rechts liegen und folgten dem Thale durch einen ziemlich unbequemen Weeg, biss wir endlich gegen sechse hier in Martinach auf flachem Wallisboden angekommen sind, wo wir uns zu weitern Unternehmungen ausruhen wollen.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1779. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-90E2-8