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An Carl Ludwig von Knebel

Vielen Dank, lieber Freund, für deinen guten und freundlichen Zuruf. Meine Absichten dich zu besuchen sind durch mehr als einen Anlaß vereitelt worden. Nach der Abreise der Kaiser und anderer hohen Herrschaften bemerkte ist erst daß ich einen ganzen Sommer abwesend gewesen war und fand gar manche Lücke in Geschäften und Unternehmungen, wo nicht alle Fäden so leicht anzuknüpfen waren. In Hauptsachen hab ich auch noch wenig vor mich gebracht.

Die Mittwoche sind wieder in Gang. Ich lese die Niebelungen vor; allein dabey geht es mir auch wie einem jungen Professor, oder wie einem Koch, der sein Leben zubringt um einige Stunden etwas Genießbares aufzutischen. Indessen ist es mir selbst von großem Werth und Nutzen; denn ich hätte das Gedicht für mich vielleicht niemals durchgelesen, und noch viel weniger soviel darüber nachgedacht, als ich gegenwärtig thun muß, um durch Reflexionen und Parallelen die Sache anschaulicher und erfreulicher zu machen. Der Werth des Gedichts erhöht sich, je länger man es betrachtet, und es ist wohl der Mühe werth, daß man sich bemühe, sein Verdienst aufs Trockne zu bringen und ins Klare zu setzen; denn wahrlich die modernen Liebhaber desselben, die Herren Görres und [221] Consorten, ziehen noch dichtere Nebel über die Nibelungen, und wie man von andern sagt, daß sie das Wasser trüben um Fische zu fangen, so trüben diese Land und Berg um alle gute kritische Jagd zu verhindern. Mir sind dabey recht artige Aperçüs vorgekommen und wenn man ihnen hier und da leugnen möchte, daß sie ganz genau zum Gegenstand passen, so sind sie doch schon lustig für sich selbst. Z.B. so hab' ich, im Sinn der Voßischen Karten zu Homer, Hesiodus und Aeschylus, eine Karte zu den Nibelungen gezeichnet, die auf sehr hübsche Reflexion führt. Auch habe ich nächst genauer Betrachtung des Süjets, der Motive, der Ausführung, auch aufs Costüm und andre Nebenvorkommenheiten, als äußere Kennzeichen, wohl aufgepaßt, wodurch man dem Alter und dem Ursprung des Gedichts näher beykommen kann. Das alles, wenn ich es mehr im Reinen habe, theile ich dir, an einem hübschen traulichen Winterabende, dereinst mit.

Überhaupt lasse ich mich nicht irre machen, daß unsre modernen, religiosen Mittelältler mancherley Ungenießbares fördern und befördern. Es kommt durch ihre Liebhaberey und Bemühung manches Unschätzbare an Tageslicht, das der allerneusten Mittelmäßigkeit doch einigermaßen die Wage hält.

Deine Bemerkung zu Ehren der Naturstudien gilt nicht für Jena und für diesen Moment allein; es liegt ein viel allgemeineres dahinter und daran.

[222] Schon fast seit einem Jahrhundert wirken Humaniora nicht mehr auf das Gemüth dessen der sie treibt und es ist ein rechtes Glück, daß die Natur dazwischen getreten ist, das Interesse an sich gezogen und uns von ihrer Seite den Weg zu Humanität geöffnet hat.

Ich danke dir, daß du mich an die Bedürfnisse des jungen Voigt erinnerst; ich will in diesen Tagen seine Sache vornehmen und wünsche gar gerne ihm etwas zu Liebe zu thun, weil ich ihn gar gerne be- und erhalten möchte: denn es ist ein Individuum, dergleichen zum zweytenmal nicht wieder geboren wird.

Meine Frau ist von Frankfurt zurückgekommen, wo sie mir die Liebe erzeigt hat, die Erbschaftsangelegenheiten nach dem Tode meiner guten Mutter auf eine glatte und noble Weise abzuthun. Sie grüßt dich und die Deinigen vielmals und wünscht euch gelegentlich zu bewirthen, da sie diesen Winter wohl schwerlich nach Jena kommen möchte.

Übrigens ist es doch bey uns sonderbar genug. Die Abreise des Erbprinzen, das vermuthliche Außenbleiben der Hoheit und anderes haben das Gefühl der Geselligkeit bey uns äußerst angeregt und die Woche könnte mehr Tage haben und immer doch noch genugsame Unterhaltung darbieten.

Bey Frau Hofrath Schopenhauer sind der Donnerstag und der Sonntag jeder auf seiner Art interessant: der erste wegen vieler Societät, wo man eine sehr mannigfaltige Unterhaltung findet; der zweyte, wo[223] man wegen kleinerer Societät genöthigt ist, auf eine concentrirte und concentrirende Unterhaltung zu dencken; und was du mir kaum vorstellen könntest, in kurzem wird unser gefelliges Wesen eine Art von Kunstform kriegen, an der du dich gelegentlich selbst ergetzen sollst.

Eine mir sehr angenehme und lehrreiche Unterhaltung giebt mir Dr. Werneburg. Er bringt das allerfremdeste, was in meinem Haus kommen kann, die Mathematik an meinen Tisch; wobey wir jedoch schon eine Convention geschlossen haben, daß nur im alleräußersten Falle von Zahlen die Rede seyn darf. Wenn es mir nachgegangen wäre, so hätte ihr ihn schon lange in Jena und er würde in dem Kreise, den du belebst, redlich und erfreulich mitwirken. Aber so ist er leider dort noch nicht angestellt und muß, wider meinen Willen, zu meiner größten Zufriedenheit, mein Nachbar seyn.

Wenn das Papier noch mehr Raum darböte, so möchte ich noch manches mittheilen. Nimm indessen mit dem Gegenwärtigen vorlieb. Laß mich bald von dir hören und reize uns von Zeit zu Zeit zu Mittheilungen.

Weimar den 25. November 1808.

Goethe. [224]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1808. An Carl Ludwig von Knebel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-90FD-E