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An Carl Semler

Ew. Wohlgeboren

sind versichert, daß ich jedes Merkmal von Zutrauen und Neigung, welches mir von Berlin zu Theil wird, zu würdigen und zu schätzen weiß. Mit gleich dankbarem Sinne habe ich das Schreiben gelesen, welches Dieselben unter'm 10. Januar an mich erlassen wollen; allein ich muß zugleich gestehn, daß ich solches zu beantworten bedeutend schwierig finde. Zwar habe ich über zwanzig Jahre einem Theater vorgestanden und habe meine Bemühung mit Beyfall belohnt gesehn, wie denn Schauspieler, die von uns ausgegangen, auch in Berlin mit Geneigtheit aufgenommen worden.

[245] Eben diese lange Erfahrung jedoch hat mich überzeugt, daß vielleicht kein ander Geschäft so vom Tage, ja vom Augenblick abhängt als dieses; es macht nur einen Theil des großen Weltwesens und participirt, willig oder unwillig, an dem guten oder verdorbenen Geschmack der Menge, welche wiederum ihrerseits von den mehr oder weniger energischen und Beyfall gewinnenden Autoren bestimmt wird; es hat den Neigungen und Eigenheiten des Publicums sich einerseits zu bequemen, indem es andererseits denselben widersteht; es leidet und zieht Vortheil von der allgemeinen Richtung der vaterländischen, ja der ausländischen Sinnesart und ist den Forderungen ausgesetzt, die es selbst erregt. Dieß alles ist so unstät und dahinfließend, daß es am Tag, an der Stunde schwierig ist zu beurtheilen, wo und wie man eingreifen soll, wie dasjenige was man möchte mit dem was man kann einigermaßen in Einstimmung zu bringen wäre. Dieß alles ist von so großer Mannichfaltigkeit und Bedeutung, daß ich es gegenwärtig nicht wagen würde, an der Führung des weimarischen Theaters, das mir doch immer zur Seite geblieben ist, wieder Theil zu nehmen, weil in dem Verlauf so weniger Jahre Ansicht und Ausübung, dramatische Werke und theatralische Erfordernisse auf einen solchen Grad sich verändert haben, daß ich nicht wüßte, wo mich anzuschließen, daß ich mich im Fall fände, wieder von vorn anfangen zu müssen.

[246] Ew. Wohlgeboren sind der Berliner Bühne, ihren Leistungen und Wirkungen seit einer langen Zeit gefolgt, und es werden Ihnen soviel besondere Maaßregeln an Hand gehn, die mir, der ich diese Angelegenheit nur im Allgemeinen überschaue, nicht zu entdecken wären. Ob die Wahl der Stücke durch eine Jury, durch einen Verein mehrerer zu bestimmen sey, wie es mit der Austheilung zu halten, die sich unmittelbar an die Wahl anschließt, indem die Möglichkeit einer Ausführung noch immer vom gegenwärtigen Personal abhängt, davon ist im Allgemeinen nichts zu sagen. In der besten und thätigsten Zeit unserer Bühne geschah alles im Einklang mit Schiller, ferner dem thätigen und einsichtigen Regisseur Genast und dem strengen Cassenführer Kirms, von welchen Verhandlungen gar manches Heitere in meinem zum Druck bereit liegenden Briefwechsel mit Schiller zu lesen seyn wird.

Wie der Autor zu honoriren, ließe sich eher etwas Behufiges vorschlagen. Man gestehe ihm die Einnahme der dritten Vorstellung zu, ohne Abzug der Kosten; von den ferneren Vorstellungen gewähre man ihm ein gewisses Procent. Die Franzosen sind uns hierin gesetzlich vorgegangen, man mache sich mit ihren Einrichtungen bekannt und befolge was räthlich und den besonderen Umständen gemäß ist. Beide Theile haben hiervon den billigen Vortheil: die Direction honorirt nur Stücke, die sich halten, und es ist des Autors [247] Angelegenheit, sein Publicum für den Augenblick zu gewinnen und sich in dessen Gunst zu befestigen.

Ew. Wohlgeboren verzeihen, wenn diese meine Antwort Ihren Anfragen und Wünschen nicht entspricht; ich mußte wagen, aus dem Stegreife das Vorliegende aufzusetzen, bey längerem Nachdenken würde man es immer bedenklicher finden, über eine so mißliche Sache sich auszulassen. An diesen meinen Äußerungen überzeugen Sie sich jedoch von meinem besten Willen und von meinen redlichen Wünschen, daß es Ihnen gelingen möge, Ihre durch vieljährige Erfahrung erworbenen schönen Einsichten auch zu den löblichen Zwecken, denen Sie entgegensehen, glücklich zu verwerthen.

Ew. Wohlgeb.

ergebenster Diener

Weimar den 17. Januar 1828.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1828. An Carl Semler. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9198-C