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An Christian Gottfried Daniel Neesvon Esenbeck

Allerdings habe ich der Parze großen Dank abzustatten, daß sie mich, nicht etwa nur wie den Protesilaus auf Eine vergnügliche Nacht, sondern auf Wochen und Tage beurlaubt hat, um das Angenehmste, was dem Menschen begegnen kann, mit Heiterkeit zu genießen. Durch wohlwollende, einsichtige, vollkommen unterrichtete Männer sey ich mich günstig geschildert und zwar so recht durch und durch erkannt und aufgefaßt, mit Neigung das Gute, mit Schonung das Bedenkliche dargestellt; ein ehrwürdiges Beyspiel, wie Scharf- und Tiefblick, mit Wohlwollen verbunden, durch Beyfall wie durch Bedingen, Warnen, Berichtigen sogleich zur lebendigsten Förderniß behülflich sind.

Bekenn ich jedoch: es hat etwas Apprehensives, wenn das, was wir leidenschaftlich wollten und allenfalls leisteten, als Bilderreihe, wie Banquos Könige, an uns vorüber zieht; die Vergangenheit wird lebendig, und stellt sich uns dar, wie wir sie selbst niemals gewahr werden konnten. Dießmal freylich nicht als leere Schattenumrisse, sondern scharf in allen Theilen ergriffen und ausgeführt.

[79] Hiebey muß ich jedoch bemerken, daß jene höchst schätzenswerthe ehrenvolle Schilderung erst nur im Allgemeinen und von ferne betrachtet worden; ich nehme sie mit in die böhmischen Bäder, um mich daran zu prüfen und zu erbauen. Schon jetzt aber, durch so freundliche Forderungen angeregt, fühl ich mich sehr geneigt, manches Frühere wieder aufzunehmen, das mir, als zerstückelt, nirgend wo sich anzuschließen schien, nun aber, nach solcher mir gegebenen Übersicht, gar wohl sein Plätzchen finden wird.

Ferner ist in mir, soviel Übereinstimmung und Billigung, das, was mich im Stillen oft beunruhigt, abermals rege geworden, daß ich nämlich bey'm Bilden der Erdoberfläche dem Feuer nicht soviel, Einfluß zugestehn kann, als gegenwärtig von der ganzen naturforschenden Welt geschieht. Ich prüfe mich schon längst und glaube die Ursache darin zu finden: daß bis jetzt keine leitende Idee in mir aufgegangen ist, die mich durch dieses Labyrinth hindurch zu führen und ein der höheren Anschauung correspondierendes Wahre mir zu entwickeln vermocht hätte. Ungesäumt werd ich also das angeführte Werk vor die Hand nehmen, damit zu guter Stunde mir endlich Befriedigung und Friede gegönnt sey.

Zu allem, was ich Ihnen und Ihren Freunden bisher schuldig geworden, wäre alsdann der Schlußstein gefunden, und ich würde nur desto freudiger fortfahren,[80] durch thätigste Theilnahme das viele fördernde Gute einigermaßen dankbar zu erwidern.

treulichst verbündet

Weimar den 13. Juni 1823.

J. W. v. Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Christian Gottfried Daniel Neesvon Esenbeck. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-920F-7