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An Cornelie Goethe

[Leipzig, 12. October 1767. ]
Meine Schwester,

Es ist heute schon Montag in der Zahlwoche und ich habe noch keinen Brief an dich angefangen. Das elendeste Octoberwetter das wir diese Messe über gehabt haben, wäre sehr geschickt gewesen, Briefe, Gedichte und andre unglückliche Geburten auszubrüten; hätte uns nicht der Hof immer hübsch auf den Beinen, selbst im größten Kohte, erhalten. Bald läßt er sich etwas auf der Akademiebibliotheck vorlesen, und das muß man doch auch hören, bald besucht er die Mahlerakademie, und da muß man als ein ehrwürdiges Mitglied zugegen seyn, so geht ein Morgen, ein Nachmittag nach dem andern, ohne daß man weiß wohin. Hätte ich nicht die meisten Arbeiten für den lieben Vater vor der Messe performirt, müsste ich auch sehr in der Schuld bleiben. [107] Gewiß Schwester, du verdienst einen recht langen Brief. Ich habe heute frühe alles durchgelesen, was du mir dieses Jahr über geschrieben hast, und finde, daß ich Ursache habe sehr beschämt zu seyn. Ich will auch die heutigen Vorlesungen versäumen, und mich mit dir unterhalten, ob gleich Gellert dieses Amt heute mit verrichten wird. Zuförderst muß ich von deinen Ausarbeitungen reden, von denen ich bißher, auf eine etwas unhöfliche Weise sehr stille geschwiegen habe. Ich muß dich nohtwendig loben, und glaube daß du viel Gutes dencken und schreiben würdest, wenn deine Einbildungs Kraft, deine Art eine Geschichte zu betrachten und deine Erzählungs Art in eine andre, aber doch nicht sehr veränderte Richtung gebracht würden. Ich kann mich hierüber nicht deutlicher erklären, ohne äuserst weitläufig zu werden, habe Geduld biß ich zu euch komme, da will ich dir hierinn wie in verschiednen andern Wissenschafften Unterricht geben, die ich nur für dich, und wenige Mädgen gesammelt habe. Dieses nur kann ich dir eistweilen sagen; ich finde daß deine Ideen über die meisten Gegenstände noch sehr brouillirt sind. Du hast zwar feine Empfindungen, wie jedes Frauenzimmer das dir ähnlich ist, aber sie sind zu leicht gefült und zu wenig überlegt. Ferner sagst du manchmal Dinge, die ich mit aller meiner Mädgenkänntniß nicht debrouilliren kann, wie sie ein Mädgen sagen kann. Ferner mercke ich daß verschiedne Lecktüren deinen Geschmack in verschiednen [108] Dingen mercklich verdorben haben, der denn wie der meisten Frauenzimmer Geschmack bigarrirt wie ein Harlekinskleid ist, deßwegen wollte ich dich bitten, das Jahr über das wir noch von einander seyn werden, so wenig als möglich zu lesen, viel zu schreiben; allein nichts als Briefe, und das wenn es seyn könnte, wahre Briefe an mich, die Sprachen immer fort zu treiben und die Haushaltung, wie nicht weniger die Kochkunst zu studiren, auch dich zum Zeitvertreibe auf dem Claviere wohl zu üben, denn dieses sind alles Dinge, die ein Mädgen, die meine Schülerinn werden soll nohtwendig besitzen muß |: die Sprachen ausgenommen, die du als einen besondern Vorzug besitzest :| Ferner verlange ich daß du dich im Tanzen perfecktionirst, die gewöhnlichsten Kartenspiele lernst, und den Putz mit Geschmack wohl verstehest. Diese letzten Erforderniße werden dir von so einem so strengen Moralisten wie ich bin, äuserst seltsam vorkommen zumal da mir alle dreye fehlen; allein sey ohne Sorgen, und lerne sie nur, den Gebrauch und den Nutzen davon sollst du schon erfahren; doch dieses muß ich dir nur gleich sagen, ich verlange nicht nur daß du, |: besonders die beyden ersten :|, im geringsten nicht lieben, sondern vielmehr fliehen sollst, demohngeachtet aber mußt du sie wohl wissen. Wirst du nun dieses alles nach meiner Vorschrifft getahn haben, wenn ich nach Hause komme; so garantire ich meinen Kopf, du sollst in einem kleinen Jahre das vernünftigste, [109] artigste, angenehmste, liebenswürdigste Mädgen, nicht nur in Franckfurt, sondern im ganzen Reiche seyn. Denn unter uns, draussen bei euch residirt die Dummheit ganz feste noch. Ist das nicht ein herrliches Versprechen! Ja, Schwester, und ein Versprechen das ich halten kann und will. Und sage, wenn ich bey meinem hiesigen Aufenthalt auch nichts gelernt hätte, als so ein groses Werck auszuführen, würde ich nicht ein großer Man seyn. Mittlerweile hofmeistre ich hier an meinen Mädgen, und mache allerhand Versuche, manchmal gerähts manchmal nicht. Die Mdll. Breitkopf habe ich fast ganz aufgegeben, sie hat zu viel gelesen und da ist Hopfen und Malz verlohren. Lache nicht über diese närrisch scheinende Philosophie, die Sätze die so paradox scheinen, sind die herrlichsten Wahrheiten, und die Verderbniß der heutigen Welt liegt nur darinne daß man sie nicht achtet. Sie gründen sich auf die verehrungswürdigste Wahrheit: Plus que les moeurs se raffinent, plus les hommes se depravent. Kannst du, wie ich wohl glaube, diese Dinge nicht ganz einsehen, so nimm sie als Wahrheiten an die dir einmal aufgeklärt werden sollen, ich werde mich darüber mit dir in keinen Briefwechsel einlassen, es sind Dinge die sich schweer schreiben. Du wirst dencken ich sey ein eigensinniger Mensch, der sich nicht gerne widersprechen läßt! Das ist wohl war, ich binn es oft, wenn ich dencke recht zu haben. Doch fürn Hencker, wie viel hab ich schon [110] ausgeschweift. Zurück also zu deinen Ausarbeitungen. Ich bin mit der Geschichte des Mr. Ruse lange nicht so zufrieden, als mit dem ersten. Warum? Ja! das weiß ich wohl, weil es eine nackte Erzählung ohne Empfindung ist, die ich, ohngeachtet die Triebfedern sehr deutlich auseinandergesetzt scheinen, dennoch nicht recht begreifen kann. Zuletzt kann ich einen Wunsch nicht verbergen, daß der liebe Vater deine kleine Stücke, die du mir schicken willst, nicht eher zu sehen bekomme biß sie abgeschrieben und bereit sind an mich abzugehen; dann mußt du ihn bitten, dir seine Meinung darüber zu sagen, die du mir in einem Anhange überschicken mußt, mit der Uberschrift Sentimens et corrections de mon cher pere. Denn jetzo kriege ich niemals etwas das ganz von dir wäre, und ich sehe manchmal mit Lachen, wie ein gutes, einfältiges Mädgen Reflecktionen macht, die niemand als ein einsehender erfahrener Mann machen konnte. Dieses wäre also Ein Punckt, etwas weitläufig abgehandelt. Wir wollen diesen Nachmittag zu den übrigen schreiten.


Um 2 Uhr.

Ich komme von Tische, und bringe ein Compliment, eine Dancksagung und die Marlimuster für dich, von meiner kleinen Wirtin mit, sie hat sie zum letzen und zum längsten gehabt und einen ansehnlichen Gebrauch davon gemacht. Ich habe ihr insinuirt, sie könnte mir immer zur Danckbaarkeit ein paar Manschetten [111] nehen. Wir wollen sehn was sie tuhn wird. Sie ist ein recht gutes Mädgen, das ich sehr liebe, sie hat die Hauptqualität daß sie ein gutes Herz hat, das durch keine allzugrose Lecktüre verwirrt ist, und läßt sich ziehen. Ich werde Ehre mit ihr einlegen, sie hat schon ganz erträgliche, auch manchmal artige Briefe schreiben lernen, aber mit der Orthographie wills nicht fort. Uberhaupt muß man die beym sächsischen Frauenzimmer nicht suchen. Da lob ich mir meine Schwester. Ich schicke dir also die Muster zurück, mit dem besten Dancke, daß du mir Gelegenheit geben wollen meine Mädgen zu obligieren. Sie bewundern alle die Ordnung deiner Muster.

Nun von meinen bißher verfertigten Dingen. Das Schäferspiel scheint dich zu interessieren, es freut mich sehr, daß es sowohl dir als meinen Critickern gefallen hat, ob ihr gleich alle die darinn überfließende Fehler bemerckt habt. In dem Briefe vom 26 Juni schreibst du deine Meinung darüber die deiner Empfindung viel Ehre macht. Das Lob das du mir giebst, hält, ohne daß du es wustest, die Critick von dem Hauptfehler des Stücks das ich dir damals sandte. Du sagst indem du von Aminen redest: et en verité mon frere tu la fais trop tendre. Fürtrefflich! Es war der Hauptfehler in dem Charackter der Amine der das ganze Ding verunstaltete. Sie war zu zärtlich, zu gütig, oder es besser auszudrücken, zu einfältig, debonnaire, und machte das Stück schläffrig. [112] Dem habe ich abgeholfen, da ich ihr bey ihren Zärtlichkeit, ein gewisses Feuer, eine Liebe zur Lust gab, die sie interessanter macht, und doch nicht mit Eglens Charackter vermischt, denn zwischen beyden bleibt noch eine merckliche Nüance.

Ich arbeite nun schon acht Monate daran, aber es will noch nicht pariren, ich lasse mich nicht dauern ganze Situationen zwey, dreymahl zu bearbeiten, weil ich hoffen kann daß es ein gutes Stückgen mit der Zeit werden kann, da es sorgfältig nach der Natur copirt ist, eine Sache die ein dramatischer Schrifftsteller als die erste seiner Pflichten erkennen muß. Es hat in allem neun oder zehen Auftritte und ist noch zweymal so starck geworden, als das Stück das du hattest. Wenn man denckt fertig zu seyn, gehts erst recht an. – Sonst habe ich aber gar nichts dieses halbe Jahr gemacht, eine Ruhe die man allen jungen Dichtern rahten sollte. Einige Kleinigkeiten, einige Oden damit ich dich nicht belästigen will sind alles was ich aufweisen kann. Manchmal mach' ich Madrigals und das sind meistenteils Naivetäten von meinem Mädgen und Freunden. Z. E.


Le veritable ami.


Va te sevrer des baisers de ta belle,
Me dit un jour l'ami; par son air sedouisant,
Ses yieux perçans, par son teint eclatant,
Sa taille mince, son language amusant,
Elle te pourroit bien deranger la cervelle;
[113] Fuis de cette beaute le daugereux amour!
Mais pour te faire voire a quel degré je t'aime,
Je veux t'oter tout espoir du retour,
En m'en faisant aimer moi meme.

Solltest du Brevillieren sehen, so sag ihm doch, er würde mir das größte Vergnügen machen, wenn er mein Schäferspiel ins Feuer schmisse, oder es dir gäbe, da du denn das nehmliche damit machen kannst, er sollte auch dafür sobald mein itziges fertig wäre, eine recht schöne Abschrifft davon bekommen, das könnte er hernach spielen wie er wollte. Einer von den klügsten Streichen den ich gemacht habe war, daß ich so viel als möglich von meinen Dingen die mich jetzt prostituiren würden, mit aus Franckfurt genommen habe. Und doch ist nicht alles weg, die Amine, und die Höllenfahrt, sind zurückgeblieben und haben mir schon manchen Aerger gemacht. Die eine spielen die guten Leute, und machen sich und mich lächerlich, die andere drucken sie mir in eine vermaledeyte Wochenschrifft, und noch dazu mit de J. W. G. Ich hätte mögen Toll darüber werden.

Ich schickte euch gern die Annette wenn ich nicht befürchten müßte daß ihr mir sie abschreibt. Denn auch sogar das Büchelegen das ich sosehr ausgeputzt und verbessert habe, wollte ich niemanden communicirt haben. Bißhierher hat es zwölf Leser und zwo Leserinnen gehabt, und nun ist mein Publicum aus. Ich liebe gar den Lärm nicht. [114] Belsazer, Isabel, Ruth, Selima, ppppp haben ihre Jugendsünden nicht anders als durch Feuer büsen können. Dahin denn auch Joseph wegen der vielen Gebete die er Zeitlebens getahn hat verdammt worden ist. Ich war lange willens ihn aufs Waysenhaus an Bogatzkyen zu schencken, der hätte ihn herausgeben können. Es ist ein erbauliches Buch, und der Joseph hat nichts zu tuhn als zu beten. Wir haben hier manchmal über die Einfalt des Kindes gelacht das so ein frommes Werk schreiben konnte. Doch ich darf nicht viel von Kind reden, es ist noch nicht vier Jahre daß er zur Welt kam.


Dienstags um 8 Uhr.

früh.

Wenn ich heute so viel schreibe als gestern, so werde ich morgen ziemlich mit dem Briefe nichts mehr zu tuhn haben; aber ich dencke es wird heute so starck nicht gehen. Im Vertrauen zu reden ich bin diesen Morgen sehr lustig, ob gleich Behrisch diesen Abend fortgeht. Er ist endlich seine dumme Stelle loß geworden, und hat sich bey dem regierenden Fürsten von Dessau, als Hofmeister seines natürtichen Sohnes engagirt. Ich wünsche ihm viel Glück dazu.


Mittewochs frühe.

Ich will heute diesen Brief zu endigen suchen, ich habe schon viel geschrieben, aber noch nicht so viel als ich mir vorgesetzt hatte. Jetzo will ich dir ein[115] wenig von meiner jtzigen Lebensart Nachricht geben. Sie ist sehr philosophisch, ich habe dem Concerte, der Commödie, dem Reiten und Fahren gänzlich entsagt, und alle Gesellschafften von jungen Leuten verlassen die mich zu einem oder dem andern bringen könnten. Es wird dieses von grosem Nutzen für meinen Beutel seyn. Die Woche gehe ich von Hause zu Tische und von Tische nach Hause, und das wird im Winter und schlechten Wetter so fortgehen. Sonntags gehe ich um 4 Uhr zu Breitkopfs und bleibe biß 8 daselbst. Die ganze Familie sieht mich gern, das weiß ich, und deßwegen komme ich auch, und dann wieder nach Hause und das so in infinitum. Manchmal besuche ich Hermannen, der mich auch ganz lieb hat, so weit es ihm sein Amt zuläßt, und bey guten Wetter laufe ich eine gute Meile von der Stadt auf ein Jagdhauß esse Milch und Brodt und komme noch vor Abends wieder. Dieses ist das ganze Diarium meines Lebens, wie es hoffentlich noch ein ganzes Jahr aussehen soll, denn ich habe mich mit aller Mühe dahingebracht daß meine Umstände von mir abhängen. Meine Gesundheit hängt nicht so sehr von mir ab. Ich lebe sehr diät, das ist wohl eins, aber Docktor Quiet und Docktor Merrymän haben hier eine so starcke Praxin daß ich bißhierher noch nicht unter ihre Cur habe kommen können. Ich binn nur aus Laune heiter wie ein Aprilltag, und kann immer 10 gegen 1 wetten daß morgen ein dummer Abendwind [116] Regenwolcken heraufbringen wird. Die guten Studia die ich studiere machen mich auch manchmal dumm. Die Pandeckten haben mein Gedächtniß dieses halbe Jahr her geplagt und ich habe warrlich nichts sonderlichs behalten. Unser Docente hat's auch sauber gemacht und ist biß ins 21 Buch gekommen. Das ist noch weit: denn ein andrer war an Michael im im 13ten. Das übrige mögen die Herren sehen wo sie es herkriegen. So ist mirs auch mit den Institutionen mit der Historia Juris gegangen, die Narren schwätzen im ersten Buche einem zum Eckel die Ohren voll und die letzten da wissen sie nichts, das macht weil die Herren vorherein ihren Autorem etwas ausgearbeitet haben, aber nicht sonderlich weitgekommen sind. Zum Exempel in der Historia Juris Sind wir biß auf die Zeiten des zweeten Punischen Kriegs gekommen. Da kannst du dir eine Vorstellung von einem Studioso Juris machen, was der vollständiges Wissen kann. Ich lasse mich hängen ich weiß nichts.

Wenn du auch dieses Stück meines Briefs nicht verstehst, so laß es den Vater lesen, es wird ihm so unangenehm seyn wie mir. Meine zwey Bogen wären nun voll, ich habe dir aber noch manches zu sagen. Vielleicht wenn ich Zeit habe mache ich einen kleinen Appendicem. Leipzig d. 14 Octbr. 1767.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1767. An Cornelie Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9223-8