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An Carl Friedrich Zelter

Ich pflichte dir vollkommen bey, daß in den langen Winterabenden ein lebhafter Briefsverkehr höchst erquicklich sey, deswegen will ich bey Empfang deines Briefs vom 25. October gleich einige Worte sagen. Indessen ist wohl die Italiänische Reise angekommen. Freylich erfahren wir erst im Alter was uns in der Jugend begegnete. Wir lernen und begreifen ein für allemal nichts! Alles was auf uns wirkt ist nur Anregung und, Gott sey Dank! wenn sich nur etwas regt und klingt. Diese Tage hab ich wieder Linné gelesen und bin über diesen außerordentlichen Mann erschrocken. Ich habe unendlich viel von ihm gelernt, nur nicht Botanik. Außer Shakespeare und Spinoza wüßt ich nicht, daß irgend ein Abgeschiedener eine solche Wirkung auf mich gethan.

Wundersam ist es, aber ganz natürlich, die Menschen speculiren auf unsere letzte Zeit wie auf sibyllinische Blätter, da sie die vorhergehende kalt und freventlich auflodern ließen. Auch an den Rhein hab so ich dringende und lockende Einladungen, von denen du wahrscheinlich gehört hast, da man es dort schon als etwas Ausgemachtes voraussetzt. Was soll mir aber das alles! Leugnen will ich nicht, daß ich einsehe am Rhein und Mayn die paar Sommer gut gewirkt zu haben, denn ich habe ja nur das Testament [219] Johannis gepredigt: Kindlein liebt euch, und wenn das nicht gehen will: laßt wenigstens einander gelten. Und da wirst du mir Beyfall geben, wenn diese himmlische Botschaft in eurem Ninive einigermaßen griffe, so wärt ihr ganz andere Leute, ohne mehr oder weniger zu seyn als ihr seyd.

Wozu aber der Aufwand von Tagen und Stunden persönlich gegenwärtiger Wirkung. Ich will doch lieber in meiner stillen und unangefochtenen Wohnung soviel dictiren und copiren, und drucken und liegen lassen, damit es hinausgehe, oder hinnen bleibe; damit jeder, wie du ganz richtig fühlst, verschweigen könne woher er's hat, und denn doch das ganze Menschenwesen ein bißchen aufgestutzt werde.

Die sämmtlichen Narrheiten von Prä- und Postoccupationen, von Plagiaten und Halbentwendungen sind mir so klar und erscheinen mir läppisch. Denn was in der Luft ist und was die Zeit fordert, das kann in hundert Köpfen auf einmal entspringen ohne daß einer dem andern abborgt. Aber – hier wollen wir Halt machen, denn es ist mit dem Streit über Priorität wie über Legitimität, es ist niemand früher und rechtmäßiger als wer sich erhalten kann.

Wenn Isegrimm seine Absurdität gegen mich immer wieder erzählt, so deutet das auf ein böses Gewissen, er wird nicht referiren wie bestialisch ich dagegen mich geäußert habe. Glücklicher oder unglücklicherweise hatt' ich so viel Gläser Burgunder mehr als [220] billig getrunken und da hielt ich auch keine Maaße. Meyer saß dabey, der immer gefaßt ist, und ihm war nicht wohl bey der Sache.

Es war der 27. August, Nachts, und ich hatte mir schon freundlich ausgedacht den 28. August meinen Geburtstag mit diesem unerwartet angekommenen Freunde zu feyern. Meyer mußte durch Zufälligkeiten am Morgen fort, und ich ließ, obgleich ungern, jenen vortrefflichen Unerträglichen dahin fahren und blieb den 28. vergnügt allein. Jener im Widerspruch Ersoffene hätte mir am Ende gar zur Feyer meines Fests behauptet, ich sey nie geboren worden.

Dieß aber alles wird ihm zu Haus und zu Hof kommen und zuletzt wird er nicht wissen wo er hinaus soll. Herder hatte sich auch solche jugendliche Unarten bis in's Alter durchzuführen vermessen und ist darüber verzweiflend in die Grube gefahren. Untersuche dich ja ob dir dergleichen Zeug in den Gliedern steckt, ich thu es alle Tage. Man muß von den höchsten Maximen der Kunst und des Lebens in sich selbst nicht abweichen, auch nicht ein Haar, aber in der Empirie, in der Bewegung des Tages will ich lieber etwas Mittleres gelten lassen, als das Gute verkennen, oder auch nur daran mäkeln.

Das theatralische Wesen laß mir nur immer in deinem Sinne vor Augen seyn, dadurch bleibt mir der ruhige Begriff, was sie dort leisten und thun, und das, anderes Bekannte mit eingerechnet, wahrhaftig [221] nicht schlecht ist. Weil aber jedes mitreden, mitschreiben und klatschen will, so vernichten sie sich einander, wenigstens in Worten, und niemand bedenkt, wie schmier es sey etwas Kunstreiches unter den tausend und aber tausend Bedingungen einigermaßen darzustellen.

Unser Theater hat nun seine Systole. Ich behandle es blos als Geschäft, glückt es aber, so wollen wir im nächsten Winter schon uns wieder diastolisirend erweisen, und da werden sie hinterdrein sagen, das sey eben recht und natürlich, da sie jetzt verzweifeln.

Und so sag ich dir dieß, dem, der die Singakademie hat entstehen sehen, mitgegründet und erhalten hat.

Und nun noch zum Schluß eine öconomisch-mercantilische Frage: wenn Herr Wild 5000 rh. werth ist, was ist denn Moltke werth? ich glaube seine Schätzung würde höher steigen, wenn er Brizzi nicht gehört hätte.

Und so hab ich denn auch noch den Wunsch, daß du mögest aufmerksam seyn auf ein junges Frauenzimmer in Berlin Auguste Tilly genannt, sie wird diesen Winter auf einem kleinen Theater Urania spielen. Wenn du auch nicht selbst hingehen und sie beobachten könntest, so thut es wohl ein guter Freund. Zwar hab ich jetzt eigentlich keinen Platz für sie, aber gerade ein Wesen, wie sie mir beschrieben wird, geht mir denn doch ab und zuweilen kommen bey [222] dem Theater so viele Veränderungen vor, wo es doch gut ist, wenn man etwas in Reserve hat.

Das Rochusfest, abermals durchgearbeitet und nochmals abgeschrieben, hat an Bestimmtheit und Glanz gewonnen. Wenn man es nicht macht wie die Maler, die jemehr sie ausführen, destomehr sie auch wieder lasiren, um die Gegenstände auseinander und wieder zusammenzubringen, so kann aus solchen Dingen nichts werden.

Der erste Aufsatz des 2ten Hefts wird gewaltigen Lärm erregen; wie du aus der Überschrift erwarten kannst, sie heißt: Neu-deutsche, fromm-patriotische Kunst.

Der Deine

Weimar den 7. November 1816.

G.


Eben als gesiegelt werden soll kommt dein Schreiben, welches die Ankunft der Italiänischen Reise meldet. Es stickt gar mancherley drinne und ich freue mich wenn es zur Anregung und zur Erkenntniß dient. Daß sie von dir öfters gelesen werde wünsche und hoff ich. Herrn Staatsrath Schulz empfiehl mich bestens und danke schönstens, die Bücher wünsche unfrankirt zu mir gesendet. Überhaupt mache man sich kein Gewissen mir etwas auf diese Weise zu schicken, da ich Portofreyheit habe, welche mir lieber ist als Preßfreiheit, deren ich mich doch auch gelegentlich bediene.

[223] Vom übrigen nächstens. Es wird überhaupt in gar manchem Gutes und Vortreffliches geschehen können, wenn sich ausgebildete Männer vereinigen constitutiv zu verfahren. Wir Deutsche stehen sehr hoch und haben gar nicht Ursache uns vom Wind Hin- und hertreiben zu lassen.

Alle gute Geister loben Gott den Herrn!

Weimar den 7. November 1816.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1816. An Carl Friedrich Zelter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9291-1