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An Carl Friedrich Burdach

Ew. Wohlgeboren

dießmalige Sendung hat mich, wenn ich es gestehen darf, wirklich betrübt, indem ich aus Ihrem Heft ersehe, daß sie das was ich, Zur Morphologie, zweytes Heft Seite 251, 1820 über diesen Gegenstand geäußert, entweder nicht gekannt, oder nicht geachtet haben, welches ich mir denn freylich muß gefallen lassen.

Sie sagen Seite 45 »Vor dem Keilbeine giebt es keinen Wirbel mehr« und sprechen hiedurch den Irrthum aus, an welchem die Wissenschaft schon seit zwölf Jahren leidet. Vor dem vorderen Keilbeine, behaupte ich, liegen noch drey Wirbel, die sich auch wohl nach und nach dem Aug' und Geist der Naturforscher entfalten werden. Unsere tüchtige Urmutter[26] konnte ihr herrlichstes Werk nicht mit dem Gehäuse, Gewölbe, dem Wohnsitz der Intelligenz stumpf abschließen; so bald dies nach innen geschehen war, mußte sie Verhältnisse, Bezüge, Verbindungen nach außen erschaffen und da brauchte sie keinen, geringen Apparat; diesen legte sie dem Einsehen, dem wollen, als dienende Glieder vor und bedurfte hiezu abermals einige Lebenskeimpuncte.

Betrachten Sie was Sie S. 48 dem dritten Wirbel aufbürden und überzeugen Sie sich, daß die Natur nicht so verfährt.

Ich weiß recht gut woher das Unheil kommt; 1807 sprang dieses so edle Geheimniß unvollständig an's Licht, man suchte die empfundenen aber nicht eingesehenen Mängel mit falschen Beziehungen zu decken und so pflanzte sich von den Ältern auf die Jüngern eine unrichtige Behandlung fort, an welcher auch Sie leiden. Alle die Jahre her hoffte ich, es werde ein lebhafter Geist sich aus diesen Fesseln befreyen, allein vergebens. Spix bearbeitete seine Tafeln in eben dem bornirten Sinne; wer fühlt sich nicht verworren, indem er sie studirt; früher oder später wird man ihre Unbrauchbarkeit einsehen; ich verlange es nicht zu erleben, aber den Nachkommen will ich wenigsten auf die Spur helfen.

Soviel für dießmal; Verzeihung dem unfreundlichen Lokalismus, denn, eben im Begriff in die böhmischen Bäder zu gehen, war ich zweifelhaft, ob ich schreiben [27] sollte oder nicht. Zu letzterem hätte ich mich beynahe entschieden, da ich mir seit mehreren Jahren zum Gesetz gemacht, kein unangenehmes Wort in die Ferne zu senden. Weil ich aber in meinem nächsten morphologischen Hefte mich über diese Angelegenheit auszusprechen gedenke, so hätte es unfreundlicher, ja tückisch ausgesehen, wenn sie erst öffentlich meine Mißbilligung erfahren hätte.

Möge Ihnen alles zum Besten gedeihen, und damit das Glück Ihre Bemühungen bis in die späten Jahre begünstigen könne, suchen Sie sich von Zeit zu Zeit von Irrthümer los zu machen, den gefährlichsten Feinden unsres Lebensganges, verschließen das Auge nicht vor Lichtblicken, die gelegentlich auf unsere düstere Wege fallen. Der beste Kopf ist, auch mit dem besten Willen, in großer Beschränktheit befangen, und wer hat nicht mehr als einmal im Leben sich selbst die angebotene Aufklärung verkümmert?

Mit den besten Wünschen und treusten Gesinnungen.

Weimar den 21. Juli 1821.

Goethe.


Nachschrift.

So eben als ich schließe, besucht mich Herr Hofrath Carus von Dresden; derselbe, ein trefflicher Beobachter, geübter Zeichner, stimmt wegen der sechs Hauptwirbel vollkommen mit mir überein, beruhigt und erfreut mich. Möge ich bald ein Gleiches von Ihnen erfahren.

G. [28]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1821. An Carl Friedrich Burdach. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-929C-B