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An Sulpiz Boisserée

Beyliegende Farbenmuster, welche mir Prof. Jagemann beym Abschied für Sie einhändigte, erinnern mich nur zu oft an meine verfehlte Reise. Ich sende sie deshalb um sie los zu werden sowohl, als auch weil sie Ihnen nützlich seyn können. Ihr lieber Brief vom 31. August gelangte in Weimar zu meinen Händen. Er drückt den Zustand eines Bräutigams oder einer Braut aus, und wie könnt es auch anders seyn.

[169] Paläophron und Neoterpe lösen den Conflikt des Alten und Neuen auf eine heitere Weise, die freylich in dieser zerspalteten Welt nicht denkbar ist: denn nicht allein durch leidenschaftliches Widerstreben, sondern auch durch unzuläßiges Vereinen wird gefehlt und bey dem wunderlichsten Schwanken tritt in Deutschland ein sehr trauriges Phänomen hervor, daß nämlich jeder sich berechtigt glaubt, ohne irgend ein Fundament bejahen und verneinen zu können, wodurch denn ein Geist des Widerspruchs und ein Krieg aller gegen alle erregt wird. Ich halte mich beobachtend, meide die Menschen nicht und suche sie nicht. Wir müssen auf alle Fälle diese Dinge besprechen eh Sie Ihre neue Lebensbahn betreten.

Der erste Band der Italiänischen Reise wird wahrscheinlich in der Michaelsmesse ausgegeben. Mir ist dabey zu Muthe, als wenn man ein Portrait oder Silhouette früherer Jahre betrachtet. So auch hier. Ich begreife recht gut, warum ich nicht mehr so seyn, denken und schreiben kann.

Darnach beginnt sogleich der Druck des zweyten Heftes von Rhein und Mayn. Ein Aufsatz geht voran. Die Geschichte der neuen frömmelnden Unkunst von den 80er Jahren her. Es wird uns manche sauere Gesichter zuziehen, das hat aber nichts zu sagen! In 50 Jahren begreift kein Mensch diese Seuche, wenn Gleichzeitige den Verlauf nicht bewahren. Indessen soll die möglichste Schonung herrschen, das kann aber [170] nur im Ausdruck seyn, denn an der Sache ist nichts zu schonen.

Hierauf wird denn das Rochusfest von 1814 wiederholt. Eine heitere im Innern fromme Darstellung.

Zunächst giebt denn Ihre Sammlung Anlaß die wahre nicht angemaßte heilige Kunst zu rühmen. Meister Hemmling ist schon in Tennstedt durchgedacht. Ich fahre in meiner alten Weise fort. In Schriften über solche Gegenstände muß der Verstand sprechen, damit der Verständige auch ohne die Gegenstände zu sehen, sich daraus was abnehmen könne. Die Gegenwart ist es alsdann, die zu den Sinnen spricht, die Einbildungskraft erregt, das Gemüth rührt, den Enthusiasmus entflammt.

Mehr sag ich nicht, denn es muß gethan werden. Mein eigenes Notirte, vieles von Ihnen Verzeichnete, kommen mir hiebey zu Hülfe. Sollte mir irgend etwas abgehen, so haben wir Zeit darüber zu conferiren.

Grüßen Sie mir die lieben Ihrigen. Der geistreiche Gallerie-Inspector soll gerühmt seyn. Danken Sie Herrn Mohr und Zimmer für die übersendeten Jahrbücher. Durch einen Mißverstand verspätet erhalt ich sie erst jetzt, doch immer zeitig genug.

Können Sie erfahren wer der Recensent meiner Farbenlehre in den Heidelberger Jahrbüchern 1814 No. 27 pag. 417-430 sey, so geschieht mir ein Gefalle;[171] denn gewisse Urtheile begreift man weit schneller wenn man das Individuum kennt aus dessen Geist es hervortrat.

Grüßen Sie den guten Jung ich hoffte bey meiner dießjährigen Reise mich unserer herkömmlichen Freundschaft wieder recht gründlich zu erfreuen.

Weimar am 27. Sept. 1816.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1816. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-92C1-6