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An Sara von Grotthuß

Vor Zeiten bestand bey mir die löbliche Einrichtung, daß ich wenigstens vor Ende des Jahres meine dringendsten Brief-Schulden abzuthun suchte; gegenwärtig aber ziehen sie sich schon einige Zeit Ihr Schuldner zu seyn, und das will ich denn auch nicht länger [239] tragen. Zwar könnte ich zu meiner Rechtfertigung aufrichtig versichern, daß ich gerade weil Sie und Ihre theure Schwester mir immer gegenwärtig waren, am wenigsten dazu gelangen konnte, Ihnen zu schreiben. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, wie nahe es mir geht, die verehrte Kranke in einem solchen peinlichen Zustand zu wissen, und wie ich von einer doppelten Empfindung hin und wieder gezogen werde, indem ich einmal zu erfahren wünsche, wie sie sich befindet, und sodann wieder befürchten muß von einem schlimmern und gefährlichern Zustand unterrichtet zu werden. Auf diese Weise, darf ich wohl sagen, bin ich immer um Sie beyde beschäftigt, und wenn mir der Ort anschaulich wäre, wo sie sich befinden; so würde an der wirklichen Gegenwart wenig fehlen. Lassen Sie jedoch, beste Freundinn, mich es entgelten, und geben mir bald Nachricht von einem Zustande, der mich so seht interessirt. Empfehlen Sie mich der theuren Leidenden auf das beste, und haben Sie tausend Dank, daß Sie so treulich die Stelle so vieler abwesend Theilnehmenden vertreten.

Von mir habe ich wenig zu sagen, wenn ich auch wollte. Das tägliche äußere Leben verschlingt das innere dauernde, und keins von beyden will seine Rechte fahren lassen; worüber denn beynahe alle beyde verloren gehn.

Sie fragen, meine Beste, nach dem Trauerspiel Jephtha. Es ist damit eigene Sache. Wir haben [240] es mit großer Sorgfalt vorgestellt, aber es nicht über die zweyte Repräsentation gebracht, und ich glaube nicht, daß es sich auf dem Repertorium halten wird. Die Ursache davon liegt darin, daß ein gebildetes Publicum wie das unsere, das alle bedeutenden Stücke sehr genau kennt, dem Verfasser des Jephtha gar zu leicht nachkommen kann, wo er seine Gestalten, seine Situationen und Gesinnungen her hat; und doch geht es mit den ersten drey Acten noch so ziemlich. Da man aber in dem vierten auf eine unangenehme Weise an Lear erinnert wird, und im fünften ein vergeblicher Pomp nur zerstreuend wirkt; so will das Glück bis ans Ende die Zuschauer festhalten, obgleich die Verse ganz gut sind und eigentlich nichts Überflüssiges sich in der Ausführung befindet; weshalb es mir auch im Lesen ganz wohl gefiel.

Soll ich aufrichtig seyn, so hat das Stück noch einen Fehler der tiefer liegt, nicht leicht erkannt, aber durchaus empfunden wird: es ist dieser. Wenn die hier behandelte Fabel einigen Werth haben soll, so mußte die Tochter Jephta's ein häusliches Mädchen seyn, es sey nun aus öffentlicher oder Privat-Sitte; der Vater muß sie gar nicht als aus- und eingehend denken können, indem er das Gelübbe thut, und ihr erster durch kindliche Liebe erregter Schritt aus der Thüre muß ihr den Tod bringen. Diese gute Dina aber läuft vor wie nach im Lande herum und erinnert an Ihre Namensgenossinn, welche auch besser [241] gethan hätte zu Hause zu bleiben, als nach Sichem zu gehen und die Töchter des Landes zu besuchen; wobey sie denn ganz natürlich den Söhnen des Landes in die Hände fiel.

Vielleicht macht dieses Stück bey einem Publicum das weniger mit unsern theatralischen Productionen bekannt ist, eine gute Wirkung: denn ob ich gleich, beym ersten Durchlesen, die Parallel Figuren und Stellen recht wohl bemerkte, so waren sie mir doch nicht zuwider, weil ich nicht einsehe, warum man nicht das Gute auf eine andere Weise verknüpft und bearbeitet wiederbringen soll. Verzeihen Sie meiner Aufrichtigkeit; ich wollte aber nicht verschwiegen, was ich bey den mehrern Proben und einer zweymaligen Aufführung bemerkt hatte. Ich schließe mit den besten Wünschen und Hoffnungen.

Im Vertrauen auf Ihre thätige Freundschaft, lege ich ein Verzeichniß bey von Personen, deren eigene Handschrift ich besitze. Sie sehen daraus, daß mir noch manche verstorbene und lebende Wiener abgehen. Fällt Ihnen irgend ein solches Blättchen in die Hände, so sehen Sie mir's auf, bis ich es gelegentlich aus Ihren lieben Händen, oder durch einen Reisenden erhalten kann. Nochmals das beste Lebewohl.

Weimar

den 8. Januar 1812.

Goethe.

Indem ich die Erlaubniß erhalte, diesen Raum mit dankbarer Erinnerung an Sie, gnädige Frau, auszufüllen, [242] dehne ich sie auf den Anfang des Briefes aus, um mich als Theilnehmer an den dort geäußerten Empfindungen aufrichtig zu bekennen. Mögen Sie sowohl bey sich selbst als bey Ihrer verehrten Frau Schwester meine Fürsprache nehmen, und mir das unschätzbare Wohlwollen ferner erhalten, womit Sie mich zeither so sehr geehrt als beglückt haben. Ich wünschte nichts mehr, als diesen Sommer Ihnen zu begegnen, und die Empfindungen der Verehrung und Ergebenheit persönlich ab den Tag zu legen, womit ich unausgesetzt verharre,

Ihr gehorsamster F. W. Riemer.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Sara von Grotthuß. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-92F8-A