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An Wilhelm von Humboldt

[Concept.]

Tennstedt den 1. Sept. 1816.

Das große Werk, dem Sie, theuerster Freund, einen schönen Theil Ihres Lebens gewidmet, konnte nicht zu besserer Stunde bey mir anlangen, es trifft mich hier in Tennstedt, in einem, Ihnen wahrscheinlich nicht ganz unbekannten thüringischen Land- und Badestädtchen, wo ich nun fünf Wochen hause und, seitdem mich Freund Meyer verlassen, allein geblieben bin.

Hier erlaubt ich mir nun zuerst ein durchlaufendes lesen, der Einleitung sowohl, als des Stückes selbst, zu meiner nicht geringen Erbauung. Und da ich nun wiederholt das Einzelne mit dem Ganzen genieße; will ich meinen Dank für diese Gabe nicht länger zurückhalten.

Denn wenn man sich auch mit allem Löblichen und Guten was uns die älteste und neuste Zeit reicht freundlich theilnehmend beschäftigt; so tritt doch eine solche uralte Riesengestalt, geformt wie Ungeheuer, überraschend vor uns auf, und wir müssen alle unsere Sinne zusammennehmen um ihr einigermaßen würdig entgegen zu stehen. In einem solchen Augenblick zweifelt man keineswegs hier das Kunstwerk der Kunstwerke, oder, wenn man gemäßigter sprechen will, ein höchst musterhaftes zu erblicken. Daß wir nun dieses [156] mit Leichtigkeit vermögen sind wir Ihnen schuldig; auch muß Ihrer Bemühung, ob sie gleich an sich belohnend war, ein fortwährender Dank lohnen.

Das Stück war von jeher mir eines der betrachtungswürdigsten und durch Ihre Theilnahme schon früh zungänglicher als andere. Verwundersam aber ist mir jetzt mehr als je das Gewebe dieses Urteppichs: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind so glücklich in eins geschlungen, daß man selbst zum Seher, das heißt: Gott ähnlich wird. Und das ist doch am Ende der Triumph aller Poesie im Größten und im Kleinsten.

Sehen wir nun aber hier wie dem Dichter die sämmtlichen Mittel zu Gebote stehen, wodurch eine so ungeheure Wirkung hervorgebracht werden kann; so enthalten wir uns nicht der höchsten Verehrung. Wie glücklich der epische, lyrische, dramatische Vortrag geflochten ist und uns zur Theilnahme an solchen greulichen Schicksalen nicht nöthigt, sondern anlockt! so und wie gut die wenige didaktische Reflexion das sprechende Chor kleidet! Alles dieses ist eben nicht genug zu preisen.

Und so verzeihen Sie denn daß ich Eulen nach Athen als Dankopfer bringe, Ich könnte wirklich immer so fortfahren und Ihnen das vorerzählen was Sie längst besser wissen.

So hat mich auch wieder auf's neue ergriffen daß jede Person, außer Clytemnestra, der Unheilverketterin, [157] ihre abgeschloßne Aristeia hat, so daß jede ein ganzes Gedicht spielt und nachher nicht wiederkommt uns etwa auf's neue mit ihren Angelegenheiten beschwerlich zu fallen. In einem jeden guten Gedichte muß die ganze Poesie stecken, dieses ist aber ein Flügelmann.

Das Sie in Ihrer Einleitung über Synonymik sagen ist köstlich, möchten doch unsere Sprachreiniger davon durchdrungen seyn! Doch in so hohe Angelegenheiten wollen wir die traurigen Mißgriffe nicht so mischen, durch welche die deutsche Nation ihre Sprache von Grund aus verdirbt; ein Unheil das man erst in dreyßig Jahren einsehen wird.

Sie aber, mein Bester, seyn und bleiben gesegnet für das Gute was Sie an uns gethan haben. Dieser Ihr Agamemnon soll mir nicht wieder von der Seite.

Das rhythmische Verdienst kann ich nicht beurtheilen; aber ich glaube es zu fühlen. Unser tüchtiger, talent- und geistvoller, aber im Widerspruch verwildernder Wolf, der einige Tage bey mir war, sprach das Beste von Ihrer sorgfältigen Arbeit. Wie sich die Heidelberger benehmen wird belehrend seyn.

Sagen Sie mir noch ein Wort ehe Sie nach Paris gehen und empfehlen mich der theuren Ihrigen. Wie sehr hätte ich gewünscht Sie diesen Sommer zu sehen! Denn es ist soviel, nach allen Seiten, in Bewegung [158] daß nur Tage hinreichen um zu besprechen was zu fördern wäre und wie? Glücklicher Weise für mich nahet mir nichts was ich ganz abzuweisen brauchte, wenn auch nicht alles nach meiner Überzeugung begonnen und geleitet wird. Und gerade dieses Sauersüße ist es was blos in der Gegenwart mündlich verhandelt werden kann.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1816. An Wilhelm von Humboldt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9443-1