4/850.

An Charlotte von Stein

Münster den 3. Okt. Sonntag Abends.

Ich eile nur von der lezten Station einige Worte aufzuzeichnen.

Von wo wir zu Mittag gegessen hatten, kamen wir bald in den engen Pass der hierher führt.

Durch den Rüken einer hohen und breiten Gebirgkette hat die Birsch ein mässiger Fluss sich einen Weeg von uralters gesucht. Das Bedürfniss mag nachher durch diese Schlüchter ängstlich nachgeklettert seyn. Die Römer erweiterten schon den Weeg und nun ist er sehr bequem durchgeführt. Das über Felsstüke rauschende Wasser und der Weeg gehen neben [69] einander weg und machen an den meisten Orten die ganze Breite des Passes der auf beiden Seiten von Felsen beschlossen ist, die ein gemächlich aufgehobenes Auge fassen kann. Hinterwärts heben Gebirge sanft ihre Rüken, deren Gipfel uns von Nebel bedekt waren.

Bald steigen an einander hängende Wände senkrecht auf, bald streichen gewaltige Lagen schief nach dem Fluss und dem Weeg ein, breite Massen sind auf ein ander gesezt, und gleich darneben stehen scharfe Klippen abgesezt. Grosse Klüfte spalten sich aufwärts und Platten von Mauerstärke haben sich von dem übrigen Gesteine losgetrennt. Einzelne Felsstüke sind herunter gestürzt, andere hängen noch über und lassen nach ihrer Lage fürchten dass sie dereinst gleichfalls herein kommen werden. Bald rund, bald spiz, bald bewachsen, bald nakt sind die Firsten der Felsen, wo oft noch oben drüber ein einzelner Kopf kahl und kühn herübersieht, und an Wänden und in der Tiefe schmiegen sich ausgewitterte Klüfte hinein.

Mir machte der Zug durch diese Enge eine grosse ruhige Empfindung. Das Erhabene giebt der Seele die schöne Ruhe, sie wird ganz dadurch ausgefüllt, fühlt sich so gros als sie seyn kann, und giebt ein reines Gefühl, wenn es bis gegen den Rand steigt ohne überzulaufen. Mein Aug und meine Seele konnten die Gegenstände fassen, und da ich rein war, diese Empfindung nirgends falsch wiedersties, so würkten sie was sie sollten. Wenn man solch ein Gefühl mit [70] dem vergleicht, wenn wir uns mühseelig im Kleinen umtreiben alle Mühe uns geben ihm so viel als möglich zu borgen und aufzufliken und unserm Geist durch seine eigne Kreatur eine Freude und Futter zu geben, so sieht man erst wie ein armseelig behelf es ist.

Ein iunger Mann den wir von Basel mitnahmen sagte es sei ihm lange nicht wie das erste mal und gab der Neuheit die Ehre. Ich möchte aber sagen wenn wir einen solchen Gegenstand zum erstenmal erbliken so weitet sich die ungewohnte Seele erst aus und es macht dies ein schmerzlich Vergnügen eine Überfülle die die Seele bewegt und uns wollüstige Thränen ablokt, durch diese Operation wird die Seele in sich grösser ohne es zu wissen und ist iener ersten Empfindung nicht mehr fähig, der Mensch glaubt verlohren zu haben, er hat aber gewonnen, was er an Wollust verliert gewinnt er an innrem Wachsthum hätte mich nur das Schicksaal in irgend eine grosse Gegend heissen wohnen, ich wollte mit iedem Morgen Nahrung der Grosheit aus ihr saugen, wie aus meinem lieblichen Thal Geduld und Stille.

Am Ende der Schlucht stiege ich ab und kehrte einen Theil alleine zurük. Ich entwikelte noch ein tiefes Gefühl, was das Vergnügen auf einen hohen Grad für aufmerksame Augen vermehrt. Man ahndet im Dunkeln die Entstehung und das Leben dieser seltsamen Gestalten. Es mag geschehen seyn wie und wann es wolle, so haben sich diese Massen nach der[71] Schweere und Aehnlichkeit ihrer Theile gros und einfach zusammengesezt. Was für Revolutionen sie nachhero bewegt, getrennt, gespalten haben, so sind auch diese auch nur einzelne Erschütterungen gewesen und selbst der Gedanke einer so ungeheuren Bewegung giebt ein hohes Gefühl von ewiger Festigkeit. Die Zeit hat, auch gebunden an die ewige Geseze, bald mehr bald weniger auf sie gewirkt.

Sie scheinen innerlich von gelblicher Farbe zu seyn, allein das Wetter und die Luft verändern die Oberfläche in graublau, dass nur hier und da in Streifen und in frischen Spalten die erste Farbe sichtbar ist. Langsam verwittert der Stein selbst und rundet sich an den Eken ab, weichere Fleken werden weggezehrt, und so giebts gar zierlich ausgeschweifte Hölen und Löcher, die wenn sie mit scharffen Kannten und Spizzen zusammentreffen sich seltsam zeichnen.

Die Vegetation behauptet ihr Recht, auf iedem Vorsprung, Fläche und Spalt fassen Fichten Wurzel, Moos und verwandte Kräuter säumen die Felsen. Man fühlt tief, hier ist nichts willkürliches, alles langsam bewegendes ewiges Gesez und nur ~~~ ~~~ ~~~ ~~~ Menschenhand ist der bequeme Weeg über den man durch diese seltsame Gegenden durchschleicht.

[72]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Holder of rights
TextGrid

Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1779. An Charlotte von Stein. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-948A-3