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An Ottilie von Goethe

Dein Schreiben, allerliebste Tochter, kam wie aus einer andern Welt in dieses extemporirte Tags-Interesse, wo im Wirbel der verschiedensten Elemente sich ein gewisses Irrsal bewegt, das die Übel vermehrt, von welchen man sich befreyen möchte. Denke nun zwischen durch vieles Würdige, das man erst erkennt, wenn es vorüber ist; so begreifst du das Bittersüße des Kelchs, den ich bis auf die Neige getrunken und ausgeschlürft habe.

Wie ernst und groß Lord Byrons Abschied in solchen Augenblicken mir erschienen, fühlst du mit; es war als wenn man auf einer Maskerade das Wichtigste, was nur auf's Leben einwirken möchte, unvermuthet erführe.

Daß mein Gedicht an ihn, mit reinem Gemüth und Sinn geschrieben und abgesendet, wohl empfangen[174] seyn werde, war ungezweifelt; daß aber, durch die wunderbarste Verwicklung der Werth dieser Zeilen erhöht und die Erwiderung so bedeutend seyn sollte, das konnte nur eine dämonische Jugend bewirken, die etwas Frohes und Freundliches bezweckt und, selbst mehr als sie will und weiß, am Ende zu ihrem eigenen Erstaunen zu vollbringen berufen ist.

Ich freute mich schon, als August mir von seinem guten Willen gegen Sterling schrieb; vom ersten Augenblicke an war ich ihm geneigt, und daß er sich so in uns alle hereinfügt, ist mir eine wahre Lust. Verzeihung! – aber das Zusammenseyn so guter verständiger und geistreicher Menschen, als wir sind, war mitunter so stockend als möglich, zu meiner Verzweiflung; es fehlte ein Drittes oder Viertes, um den Kreis abzuschließen.


Marienbad den 18. August 1823.

Und so sag ich nunmehr, meine Liebe, die letzten Worte in Marienbad. Wenn dieses Blatt mit etwas tristen Betrachtungen anfing, so kann ich nun dagegen mit recht heitern Empfindungen schließen. Alles ist mir über Wissen und Wollen gut gelungen, befriedigend für Herz, Geist und Sinn, wie man sonst zu reden pflegt.

Madame Milder hab ich singen hören, im engen Kreise, kleine Lieder, die sie groß zu machen verstand; es ist auch gut, daß man dergleichen Musterstücke nur [175] unerwartet vernimmt. Madame Szymanowska, ein weiblicher Hummel mit der leichten polnischen Facilität, hat mir diese letzten Tage höchst erfreulich gemacht; hinter der polnischen Liebenswürdigkeit stand das größte Talent gleichsam nur als Folie oder, wenn du willst, umgekehrt. Das Talent würde einen erdrücken, wenn es ihre Anmuth nicht verzeilich machte.

So geh ich nun von Marienbad weg, das ich eigentlich ganz leer lasse; nur diese zierliche Tonallmächtige und den Grafen St. Leu noch hier wissend. Alles andere, was mich leben machte, ist geschieden, die Hoffnung eines nahen Wiedersehens zweifelhaft. Mittwoch den 20. geh ich von hier ab, Rath Grüner kommt mich wegzunehmen und zu dem todten und doch als pis aller so interessanten Gestein zurückzuführen.

Auch in diesem alten Irdischen, so wie im neusten Himmlischen, hab ich köstliche Erfahrungen gemacht; schöne Zusammenstellungen sind mir geworden, woran mir ganz alleine leid thut, daß ich dir davon nichts mittheilen kann. Hast du aber Geduld, so wird bey stiller Winternacht eine gewisse Vertraulichkeit nicht ausbleiben, die doch immer den Vortheil hat, daß der Vertrauende in einen Bezug zu der Vertrauten kommt, der ich weiß nicht was für Eigenheiten mit sich bringt. Möge das alles werden, wie ich's denke und wünsche.

[176] Von Eger hört ihr das Mehrere; August mag alles so einrichten, daß ich den 13. in Jena seyn kann, und so wird sein Ausflug, bey wahrscheinlich günstigem Spätjahr, erheiternd werden.

Hierbey noch einige Gedichte.

Im schönsten Sinne

dein liebender Vater

Marienbad den 19. August 1823.

G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Ottilie von Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-948C-0