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An Ottilie von Goethe

Liebe Tochter.

»Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber!« so pflegen die Weimaramer zu sagen, wenn sie eine vergangene heitere Zeit zu beklagen Ursache finden. Am 9. reiste der Großherzog ab, der vieles verband und belebte; die schönsten Ballkleider seh ich einpacken, die Hüte nebenbey, und in wenig Tagen ist die belobte Terrasse zur vollkommnen Wüste geworden. Das war nun also wieder einmal ein Badeleben, wo [163] alles in vier, fünf Wochen vorüber ist. Neuerlich sind zwar wieder schöne und hübsche verständige Personen angelangt, für die man aber weder Sinn noch Gespräch übrig hat. Graf St. Leu wird mir die übrigen Tage meines hiesigen Aufenthalts heitern, angenehm und nützlich machen. Damit du aber siehst, was für ein grundguter und anmuthiger Mann es ist; so send ich einige seiner Gedichte, die dich gewiß freuen werden; nur mußt du sie nicht mit den energischen Productionen des englischen Heros vergleichen. Mir wenigstens haben sie in gegenwärtiger Stimmung einen wahrhaft elegischen Effect gemacht. Am mehrere hab ich ihn noch ersucht, damit sich ein gewisser lyrischer Kreis bilde, der sich in sich selbst abschließt und so manifestire.

Stadelmann klopft noch immer im Lande herum, John beobachtet Barometer und Wolken, da ich denn beiden in Gedanken folge und nach meiner Weise Theil am Geschäft nehme.

Bis den 20. d. M. hab ich hier noch immer zu thun und zu schaffen, wobey die Einsamkeit sehr dienlich seyn wird, manches bisher gesellig Versäumte nachzuholen. Dann ist mein Vorsatz nach Eger zu gehen, mit Rath Grüner allerlei neue geognostische Untersuchungen zu revidiren. Ob ich nach Carlsbad komme, weiß ich nicht zu sagen.

In diesem Augenblick langt dein Schreiben an mit Byrons Brief u.s.w. Da muß ich, um zu erwidern, [164] andere Saiten aufziehen. In wenig Tagen ist das hiesige Mährchen ausgespielt; von Eger vernehmt ihr gleich das Weitere. Ich befinde mich so wohl, als ich wünschen kann.

Grüße und küsse die Kinder; es ist recht lustig, wenn die Enkel über des Großvaters Thorheit erstaunen und sie sich als wichtige Begebenheiten einprägen. Soviel für dießmal; was noch zu sagen wäre, muß auf eine mündliche, vielleicht wieder einmal mitternächtige Unterhaltung aufgespart werden.

Und doch, um keine leere Seite zu lassen, einige Fallsterne, wie sie in schöner klarer Nacht vorüber streifen.

Der Eurige
Marienbad den 14. August 1823.
G.

Du hattest längst mir's angethan,
Doch jetzt gewahr ich neues Leben:
Ein süßer Mund blickt uns gar freundlich an,
Wenn er uns einen Kuß gegeben.
Du Schüler Howards wunderlich
Siehst Morgends um und über dich,
Ob Nebel fallen? ob sie steigen?
Und was sich für Gewölke zeigen.
Auf Berges Ferne ballt sich auf
Ein Alpenheer, beeist zu Haus,
Und oben drüber flüchtig schweifen
Gefiedert weiße lustige Streifen;
Doch unten senkt sich grau und grauer
Aus Wolkenschicht ein Regenschauer.
[165]
Und wenn bey stillem Dämmerlicht
Ein allerliebstes Treugesicht
Auf holder Schwelle dir begegnet,
Weißt du, ob's heitert? ob es regnet?
Wenn sich lebendig Silber neigt,
So gibt es Schnee und Regen,
Und wie es wieder aufwärts steigt,
Ist blaues Zelt zugegen;
Auch sinke viel, es steige kaum
Der Freude Wink, des Schmerzens,
Man fühlt ihn gleich im engen Raum
Des lieb-lebend'gen Herzens.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1823. An Ottilie von Goethe. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-967F-B