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An Samuel Thomas von Sömmerring

Freilich hätte ich, aus freundschaftlichem Gefühl gegen Sie und aus Dankbarkeit für den mannigfaltigen schönen Unterricht, den ich aus Ihren Schriften gezogen habe, früher auch referiren sollen, was Ihre Schrift, über das Organ der Seele, bei mir und in meinem Kreise für Sensation macht, und doch kann ich auch jetzt, da ich wage etwas darüber zu äußern, nur sehr aphoristisch zu Werke gehen; die Zeit läuft dergestalt mit einem davon, daß man sich nicht zu [174] retten weiß, und Correspondenz und Recension ist niemals meine Stärke gewesen.

Wenn ich sagen soll, so scheint es mir, Sie haben Ihren trefflichen Beobachtungen, und der Zusammenstellung so mancher Erfahrungen und Kenntnisse, durch den Titel und durch die Methode, die Sie gewählt haben, geschadet, bei jenem stutzt der Physiolog und Philosoph, und diese, sobald sie bei solchen Gegenständen dogmatisch ist, erweckt sie Mißtrauen, und jedermann ist sogleich auf seiner Hut. Eine Idee über Gegenstände der Erfahrung ist gleichsam ein Organ, dessen ich mich bediene, um diese zu fassen um sie mir eigen zu machen. Die Idee kann mir bequem sein, ich kann Andern zeigen, daß sie es ihnen auch sein werde; aber es läßt sich nach meiner Vorstellungsart nur sehr schwer, und vielleicht gar nicht beweisen, daß sie wirklich mit den Objecten übereinkomme und mit ihnen zusammentreffen müsse. Hätte Sie die Philosophen ganz aus dem Spiele gelassen, ihr Wesen und Treiben ignorirt und sich recht fest an die Darstellung der Natur gehalten, so hätte niemand nichts einwenden können, vielmehr hätte jeder Ihre Bemühungen unbedingt verehren müssen. Hätte ich zu rathen gehabt, so hätte Sie das Werk überschrieben von Hirnenden der Nerven, hätten, nach einer kurzen Einleitung, mit dem 6ten Pharagraph angefangen und hätten Ihre treffliche Darstellung bis zum 26ten verfolgt. Mit einer kurzen [175] Äußerung, daß Sie nun glaubten als Physiolog Ihrer Pflicht genug gethan zu haben, daß Sie aber doch über die so lange und oft aufgeworfene Frage vom Sensorio communi Einiges beizufügen hätte, wären alsdann die Paragraphen 28 bis 32 meiner Meinung nach mit einiger Veränderung gefolgt. Vielleicht wäre die Frage: Läßt sich auch etwa a priori einsehen, daß die Feuchtigkeit der Hirnhöhlen das gemeinschaftliche Sensorium enthält? umgangen worden, da man a priori nichts von den Hirnhöhlen noch ihrer Feuchtigkeit wissen kann; so wie Sie in der folgenden aufgeworfenen Frage: Kann eine Flüssigkeit animirt sein? vielleicht das Wort belebt unzweideutiger gebraucht hätten, und so wäre das Übrige, das so viel zweckmäßige Literatur enthält, und die Bemühungen denkender Köpfe so schön zusammenstellt und umfaßt, vielleicht mit weniger Veränderung nachzubringen gewesen; aber auch dabei würde ich immer gerathen haben als ein Überredender, und nicht als ein Beweisender zu Werke zu gehen, um so mehr, da Sie im 27ten Paragraph selbst gestehn: daß Ihr folgendes Raisonnement nicht die Consequenz habe als Ihre erste Darstellung. Mancher hätte nach Endigung Ihrer Schrift alsdann gesagt: o ja, ich kann mir recht gut denken, daß das gemeinsame Sensorium in der Feuchtigkeit der Hirnhöhlen sich befindet, ein Anderer hätte versichert, daß ihm diese Idee mit zu denken unmöglich sei, ein Dritter hätte die Sache auf sich beruhen lassen, und [176] Allen wäre Ihre Schrift von gleich großem und bestimmtem Werthe gewesen, und jeder hätte für die mannigfaltige Belehrung die er daraus gezogen, danken müssen. Nun ist aber, mehr oder weniger, jedermann gegen Sie auf seiner Hut, und die Meisten glauben mit Ihnen polemisiren zu müssen. So hätten Sie auch meo voto der Seele nicht erwähnt; der Philosoph weiß nichts von ihr, und der Physiolog sollte ihrer nicht gedenken.

Überhaupt haben Sie Ihrer Sache keinen Vortheil gebracht, daß Sie die Philosophen mit ins Spiel gemischt haben; diese Klasse versteht, vielleicht mehr als jemals, ihr Handwerk, und treibt es, mit Recht, abgeschnitten, streng und unerbittlich fort; warum sollten wir Empiriker und Realisten nicht auch unsern Kreis kennen und unsern Vortheil verstehn? für uns bleiben und wirken, höchstens jenen Herrn manchmal in die Schule horchen, wenn sie die Gemüthskräfte kritisiren, mit denen wir die Gegenstände zu ergreifen genöthigt sind?

Das sieht nun aus, als wenn ich recht viel gegen Ihre Schrift einzuwenden hätte, und doch gehen alle meine Erinnerungen nur gegen die Zusammenstellung der Theile, die, wenn sie nach meiner Art beliebt worden wäre, eigentlich nur politischer sein, und eine allgemeinere Zufriedenheit des Publikums mit dem Ganzen erregt haben würde; nehmen Sie heute mit diesen flüchtigen Worten vorlieb, die noch nicht abgehen[177] würden, wenn ich vor mir sähe, daß ich so bald Ihnen eine Recension, die dem Werthe des Buchs angemessen wäre, zuschicken könnte.

Einige specielle Einwendungen gegen den 37sten und 39sten Paragraph bringe ich vielleicht ehestens weitläufiger vor.

Fahren Sie fort mich von Zeit zu Zeit mit Ihren trefflichen Beobachtungen bekannt zu machen und erhalten mir ein freundschaftliches Andenken.

Weimar, den 28. Aug. 1796.

Goethe.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1796. An Samuel Thomas von Sömmerring. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9683-0