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An Sulpiz Boisserée

Ihr liebreiches Andenken fand mich gerade allein am Weihnachtsabend, in meiner wunderlichen jenaischen Wohnung, wo aller Comfort nur aus der Seele des Bewohners entspringen kann; ich versetzte mich gern zu den drey Königen an die Krippe und betrachtete mit Freude was auch mir an diesem lieblichen Abende geworden war.

Das Stammbuch in den schwäbischen und Rheingegenden, zu Anfang des dreyßigjährigen Krieges, von Fürsten, Herren und Canzleyverwandten mit Feder und Pinsel gezeichnet, ist höchst merkwürdig: Tüchtigkeit, Ernst und Muth walten überall vor.

Ein mehr wunderliches als beschwerliches Bibliotheksgeschäft habe ich nun so gestellt, daß ich bis Ostern Friede habe. Mein stockendes drittes Heft bewegt sich wieder und wird wohl bis Palmarum beysammen seyn. Wahrscheinlich nehme ich den Aufsatz über das Abendmahl darin auf. Diese Untersuchungen waren für mich von der größten Bedeutung, sie nöthigten mich, dem außerordentlichsten Künstler und Menschen wieder einmal auf allen Spuren zu folgen; wo man denn doch über die Tiefe der Möglichkeit erschrickt, die sich in einem einzigen Menschen offenbaren kann.

Leider ist aber beynahe alles was er geleistet hat[11] den Sinnen entrückt, und wie sehnsuchtsvoll gedachte ich Ihres Christusbildes von Hemmling, von welchem so eben Artaria mit ungewohntem Enthusiasmus gegen mich sprach.

Übrigens muß ich, wie schon vormals gesagt, von Tag zu Tage gehen, das Interesse des Augenblicks bleibt bei mir, und früherer würdiger Zeit. Gestern heißt gar nichts! und so ist denn das allgemeine Menschen-Loos noch immer erträglich genug.

So weit war ich gelangt am 10. Abends, als Ihr lieber Brief ankam. Lassen Sie mich Folgendes dankbar hinzufügen. Zuerst spreche ich meine Freude aus über die sich unter uns immer mehr ausgleichende Überzeugung; auch dießmal stimme ich völlig ein. Winkelmanns Weg, zum Kunstbegriff zu gelangen, war durchaus der rechte, Meyer hat ihn ohne Wanken streng verfolgt, und ich habe ihn auf meiner Weise gern begleitet. Der sonstigen treuen Mitarbeiter in diesem Felde gab es auch wohl noch; sehr bald aber zog sich die Betrachtung in Deutung über und verlor sich zuletzt in Deuteleyen; wer nicht zu schauen wußte fing an zu wähnen und so verlor man sich in egyptische und indische Fernen, da man das Beste im Vordergrunde ganz nahe hatte. Zoega fing schon an zu schwanken, Böttcher tastete überall herum, am liebsten in Dunkeln und man hatte nun immerfort an den unseligen dionysischen Mysterien zu leiden. Creuzer, Kanne und nun auch Welcker entziehen uns[12] täglich mehr die großen Vortheile der griechischen lieblichen Mannigfaltigkeit und der würdigen israelitischen Einheit.

Hermann in Leipzig ist dagegen unser eigenster Vorfechter. Die Briefe, zwischen ihm und Creuzer gewechselt, kennen Sie, der fünfte ist unschätzbar. Dazu nun seine lateinische Dissertation über die alte Mythologie der Griechen macht mich ganz gesund: denn mir ist es ganz einerley, ob die Hypothese philologisch-kritisch haltbar sey, genug, sie ist kritisch-helenisch patriotisch und aus seiner Entwicklung und an derselben ist so unendlich viel zu lernen als mir nicht leicht in so wenigen Blättern zu Nutzen gekommen ist.

Mit meinem Heft Kunst und Alterthum geht mir's wunderlich, die Rhein- und Maynluft verweht nach gerade, und ich habe Sie auch deswegen nicht weiter aufgefordert. Man verlangt von mir des Jahres über so vielerley Gutachten, und nun kann ich mich auf diesem Wege auf einmal an mehrere Fragende wenden; doch so geht Zeit und Raum dahin, ohne daß man sieht, was es fruchtet. Dann kommt uns denn doch wieder, ehe wir uns versehen, und unserm Glauben irgend ein Zeichen zu Hülfe, so erhalte ich vor einigen Tagen ein Heft mit der Überschrift:

»Über die Aufgabe der Morphologie, bey Eröffnung der königlichen anatomischen Anstalt in Königsberg, von C. F. Burdach, Professor der Anatomie.«

[13] Kommt Ihnen das Programm vor Augen, so schenken Sie ihm Aufmerksamkeit, man kann alsdann ehr darüber conferiren.

Tausend Lebewohl!

Jena den 16. Januar 1818.

G.


Lassen Sie mich nun Ihren eigenen Angelegenheiten ein besonderes Blatt widmen! Schon früher wünschte ich, was Sie auch nun zu thun scheinen, daß Sie Ihre Forschungen sammelten und Ihre Überzeugung aussprächen. Richten Sie es ein, daß es ein Bändchen wird, und Sie werden, selbstständig erscheinend, sich und andern Freude machen. Wollen Sie das Manuscript vor meinen Augen vorübergehen lassen, so soll es an freundlichen theilnehmenden Blicken und, wenn Sie's verlangen, an Vorwort nicht fehlen.

Soll ich in Berlin Anregung thun? Ich kann es aufs Unverfänglichste. Doch wünsche Ihre Zustimmung.

Das neuste vom Jahr! Damit die letzte Seite nicht leer bleibe!

G.
Worte find der Seele Bild –
Nicht ein Bild! Sie sind ein Schatten!
Sagen herbe, deuten mild
Was wir haben, was wir hatten –
Was wir hatten wo ist's hin?
[14] Und was ist denn was wir haben? –
Nun! Wir sprechen! Rasch im Fliehn
Haschen wir des Lebens Gaben.

am 10. Jan. 1818.
G.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1818. An Sulpiz Boisserée. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-96DA-E