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An Johann Christian Kestner

[Friedberg, 10. November 1772.]

Ich binn der rechte. Ausgeschickt auf eine Local Commission, phantasir ich übers Vergangne und zukünftige. Gestern Abend war ich noch bey euch und ietzo sitz ich im leidigen Friedberg und harre auf einen Steindecker, mit dem ich die Reparatur meines verwünschten Schlosses akkordiren will. Der Weg hierher ward mir sehr kurz, wie ihr denken könnt, und wie ich heut vom Cronprinzen hinauffuhr, und ich [34] die Deutschhaus Mauern sah, und den Weeg den ich so hundertmal, und es dann rechts ein in die Schmidtgasse lenckte. Ich wollte ich hätte gestern Abend förmlich Abschied genommen, es war eben so viel und ich kam um einen Kuß zu kurz, den sie mir nicht hätte versagen können. Fast wär ich heute früh noch hingegangen, Schlosser hielt mich ab, dafür spiel ich ihm nächstens einen Streich, denn ich will doch nicht allein leiden. Gewiß Kestner, es war Zeit dass ich gieng. Gestern Abend hatt ich rechte hängerliche und hangenswerthe Gedanken auf dem Canapee – –

Der Steindecker war da und ich binn so weit als vorher, und es ist ein Packet von meinem Vater an kommen darnach ich geschickt habe, das mag auch erbaulichs Zeug enthalten. Indessen binn ich doch wieder bey euch gewesen und meine Seele ist noch bey euch und bey meinen Kleinen. Wenn der Mensch geboren wäre reine Freuden zu geniessen –

Der Brief meines Vaters ist da, lieber Gott wenn ich einmal alt werde, soll ich dann so werden. Soll meine Seele nicht mehr hängen an dem was liebenswerth und gut ist. Sonderbar, dass da man glauben sollte ie älter der Mensch wird, desto freyer er werden sollte von dem was irrdisch und klein ist. Er wird immer irrdischer und kleiner. – Sie sehen ich binn schön im Train zu radotiren, aber Gott weis es ist nichts anders als mich mit Ihnen zu beschäfftigen und zu vergessen, wer, wo, und was ich binn.

[35] Schlosser kommt eben von einer Ambassade wieder, die Liebe giebt ihm die Protokolle ein, er inquirirte in die innersten Höllenwinkel, inzwischen bleibt alles wies ist, und wir richten mit lauffen und treiben grade so viel aus, daß wir einer ansehnlichen Visitations Deputation nicht den Rang ablaufen.

Und wenn ich wieder dencke wie ich von Wetzlar zurückkomme, so ganz über meine Hoffnung Liebempfangen geworden zu seyn; binn ich viel ruhig. Ich gestehs Ihnen es war mir halb angst, denn das Unglück ist mir schon offt wiederfahren. Ich kam mit ganzem, vollem, warmem Herzen, Lieber Kästner da ists ein Höllenschmerz wenn man nicht empfangen wird wie man kommt. Aber so – Gott geb euch ein ganzes Leben wie mir die paar Tage waren.

Das Essen kommt, und Gute Nacht.

Noch einmal gute Nacht. Empfelen Sie mich dem alten lieben Papa, und meinen Buben. Lotten erinnert Sie im Concert an mich auch Dortelegn.

Noch etwas. Lotte hat ein Meubel das ihr zu gros ist. Ich hab sie gebeten mir zu erlauben es in kleineres zu vertauschen schicken Sie mirs doch wohl eingepackt auf der fahrenden.

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1772. An Johann Christian Kestner. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-96FF-D