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An Carl Ludwig von Knebel

Auf deinen lieben Brief will ich sogleich etwas erwiedern und wünschte wohl, denn es ist mir in der letzten Zeit gar manches vorgekommen, das ich wohl mittheilen möchte.

Daß es mit Jacobi so enden werde und müsse, habe ich lange unter seinem bornirten und doch immerfort regen Wesen selbst, genugsam gelitten. Wem es nicht zu Kopfe will, daß Geist und Materie, Seele und Körper, Gedanke und Ausdehnung, oder (wie ein neuerer Franzos sich genialisch ausdrückt) Wille und Bewegung die nothwendigen Doppelingredienzien des Universums waren, sind und seyn werden, die beyde gleiche Rechte für sich fordern und deswegen beyde zusammen wohl als [321] Stellvertreter Gottes angesehen werden können – wer zu dieser Vorstellung sich nicht erheben kann, der hätte das Denken längst aufgegeben, und auf gemeinen Weltklatsch seine Tage verwenden sollen.

Wer ferner nicht dahin gekommen ist, einzusehen, daß wir Menschen einseitig verfahren, und verfahren müssen, daß aber unser einseitiges Verfahren bloß dahin gerichtet seyn soll, von unserer Seite her in die andere Seite einzudringen, ja wo möglich, sie zu durchdringen, und selbst bey unseren Antipoden wieder aufrecht auf unsere Füße gestellt zu Tage zu kommen, der sollte einen so hohen Ton nicht anstimmen. Aber dieser ist leider gerade die Folge von jener Beschränktheit.

Und was das gute Herz, den trefflichen Charakter betrifft, so sage ich nur so viel: wir handeln eigentlich nur gut, insofern wir uns selbst bekannt sind; Dunkelheit über uns läßt uns nicht leicht zu, das Gute recht zu thun, und so ist es eben so viel, als wenn das Gute nicht gut wäre. Der Dünkel aber führt uns gewiß zum Bösen, ja, wenn er unbedingt ist, zum Schlechten, ohne daß man gerade sagen könnte, daß der Mensch, der schlecht handelt schlecht sey.

Ich mag die mysteria iniquitatis nicht aufdecken; wie eben dieser Freund, unter fortdauernden Protestationen von Liebe und Neigung, meine redlichsten Bemühungen ignorirt, retardirt, ihre Wirkung abgestumpft, [322] ja vereitelt hat. Ich habe das so viele Jahre ertragen, denn – Gott ist gerecht! – sagte der persische Gesandte, und jetzo werde ich mich's freylich nicht anfechten lassen, wenn sein graues Haupt mit Jammer in die Grube fährt. Sind doch auch in dem ungöttlichen Buch von göttlichen Dingen recht harte Stellen gegen meine besten Überzeugungen, die ich öffentlich in meinen auf Natur und Kunst sich beziehenden Aufsätzen und Schriften seit vielen Jahren bekenne und zum Leitfaden meines Lebens und Strebens genommen habe – und alsdann kommt noch ein Exemplar im Namen des Verfassers an mich, und was dergleichen Dinge mehr sind.

Übrigens soll im Dank werden, daß er Schellingen aus seiner Burg hervorgenöthigt hat. Für mich ist sein Werk von der größten Bedeutung, weil sich Schelling noch nie so deutlich ausgesprochen hat, und mir gerade jetzt, in meinem augenblicklichen Sinnen und Treiben, sehr viel daran gelegen ist, den statum controversiae zwischen den Natur- und Freiheitsmännern recht deutlich einzusehen, um nach Maaßgabe dieser Einsicht meine Thätigkeit in verschiedenen Fächern fortzusetzen.

Das Übrige in den Beylagen.

W. d. 8. Apr. 1812.

G. [323]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1812. An Carl Ludwig von Knebel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-9739-1