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An Carl Ludwig von Knebel

Meine Absicht, dich einmal zu überraschen, ist durch die weichen regnenden Tage bis jetzt verhindert worden. Den kürzesten Tag werden wir denn wohl in wechselseitiger Einsamkeit abwarten müssen, wo sodann die Sonne, zu deiner Freude, jeden Morgen nach der Kunitzburg weiter rücken wird.

Meyers großer und entschiedener Gewinn von der Berliner Reise unterhält mich gar höchlich die Abende; er hat es an schriftlichen Bemerkungen nicht fehlen [40] lassen, die denn freylich jetzt erst zu redigiren und in's Reine zu schreiben sind.

Ein vor zwanzig Jahren gefertigtes Schema, wo alle Motive der Ilias Schritt vor Schritt ausgezogen sind, und von dem ich dir wohl einmal gesagt habe, ist nun sorgfältig revidirt und der Laconismus desselben durch Ausführlichkeit der Gleichnisse belebt worden. Ich habe bey dieser Gelegenheit, da ich das Werk von vornen bis hinten und von hinten bis vornen anschauend überlassend mußte, nur auf's neue Respect vor den letzten Redacteurs empfunden, denen wir unsere Recension schuldig sind. Wir können dieses Werk in seiner Ausführung als vollkommenste ansehn, was wir besitzen, und wollen also dasselbe immerfort mit Dank anerkennen.

Bey dieser Gelegenheit habe auch Wolfs Prolegomena wieder gelesen und mich daran erbaut und ergetzt. Da man das Vorurtheil aufgegeben hat der uralterthümlichen Einheit der homerischen Gesänge, so ist es eine Freude durch alle kritische Nebel hindurchzusehen, wie viel uns übrig geblieben seyn muß.

Junge Freunde ersuchen mich dringend mein Schema drucken zu lassen, und ich thue es vielleicht in einem meiner Hefte. Dem bildenden Künstler wird es vom größten Vortheil seyn, der nunmehr die nackte That, ohne poetische Pracht, vor Augen sieht [41] und sie nach seiner Weise nun wieder geistreich verkörpern und ausstatten kann.

Im Beykommenden findest du die Abbildung eines alten Vorfahren, den du mit einer Stecknadel gern an die Wand heften mögest. Durch eine gewisse Ähnlichkeit bin ich veranlaßt worden, die in meinem Besitz befindliche Medaille abgießen zu lassen; ob ihr an der Saale auch diese Ähnlichkeit findet, wird sich zeigen; meine Hausgenossen haben sich sogleich ausgesprochen.

Jetzt lebe wohl und laß mich den ersten Aushängebogen vom Lucrez baldmöglichst sehen, damit ich mich vergnüglich überzeuge, und sage mir auch etwas von deinen Zuständen.

Das Übel unserer theuren Großherzogin scheint sich sehr zu mildern und in Heilungszustand überzugehen. Der Fingergeschwulst, der ohnehin nicht bedenklich ist, legt sich nach und nach, auch ist sie schon wieder auf den Füßen, worauf doch eigentlich alles ankommt. Hofmarschall Spiegel bessert sich auch, und so können wir bey rückkehrender Sonne hoffen diese Harpyen los zu werden.

Lebe wohl, grüße die Deinigen und laß bald wieder etwas von dir vernehmen; in meinem Hause befindet sich Jung und Alt ganz wohl.

treulichst

Weimar den 17. December 1820.

Goethe. [42]

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TextGrid Repository (2012). Goethe: Briefe. 1820. An Carl Ludwig von Knebel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0006-97DE-F